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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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bemitleidenswerten Jungen) namens
Maestro
,
Mr Frank
, etwas, das sie
Die Gesellschaft für Lügengeschichten
nannte –, als wüsste ich ganz genau, wer oder was damit jeweils gemeint war. Das rührte mich, denn offensichtlich hatte Sam das Gefühl, dass ich die ganze Zeit bei ihr gewesen war, dass ich immer sah, was sie sah.
    Nachdem wir zwei Dackel begrüßt hatten, die uns entgegenkamen, erklärte Sam, dass sie bereit sei, nach Hause zu gehen. Im Taxi fragte ich sie, ob ihr der Tag gefallen habe. Sie nickte.
    »Schatz?«
    Sie gähnte.
    »Erinnerst du dich an die Figur, die Mama in deiner Manteltasche gefunden hat?«
    Die Frage schien Sam zu verblüffen. Sie starrte mich an.
    »Die, äh, schwarze Schlange?«, schob ich nach, so beiläufig wie möglich.
    »Der Drache, wegen dem Mama so sauer war?«, fragte Sam.
    »Genau, der Drache, wegen dem Mama sauer war. Wo hattest du ihn her?«
    »Ashley.«
    Ich gab mir alle Mühe, entspannt zu bleiben. »Und wo hast du Ashley getroffen?«
    »Mit Jeannie auf dem Spielplatz.«
    Mit Jeannie auf dem Spielplatz.
»Wann war das?«
    »Das ist lange her.« Sam gähnte erneut, ihre Augen sahen auf lustige Art schwer aus.
    »Hast du mit ihr gesprochen?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Sie war zu weit weg.«
    »Wie weit weg?«
    »Sie war bei den Autos. Ich war auf der Schaukel.«
    »Aber wie hat sie dir dann den Drachen gegeben?«
    »Sie hat ihn dagelassen.« Sie sagte das mit der Verzweiflung einer Lehrerin, die genau das schon etliche Male erklärt hatte.
    »Wann? Am nächsten Tag?«
    Sie nickte ganz leicht.
    »Pass auf. Du bist die beste Menschenkennerin, die ich je getroffen habe, und ich lege großen Wert auf deine Meinung. Was hältst du von ihr? Von Ashley?«
    Sie lächelte schwach, als ich den Namen sagte. Doch ihr fielen schon die Augen zu.
    »Sie war eine magische …«, flüsterte sie.
    »Was?
Sam?
«
    Aber sie war nicht mehr ansprechbar, ihr Kopf fiel gegen meinen Arm, die Hände lagen in ihrem Schoß, als würde sie ein unsichtbares Büschel Veilchen halten. In der Perry Street angekommen, trug ich sie nach oben, damit sie schlafen konnte, doch Jeannie weckte sie um sieben, um ihr den Wolkenschlafanzug anzuziehen. Wir sahen uns »Findet Nemo« an. Ich machte Omeletts aus Eiweiß. Als Jeannie nach oben ging, um ihre Kontaktlinsen herauszunehmen – was offenbar bedeutete, dass sie ihren Freund anrufen wollte –, saß Sam still am Küchentisch und aß.
    Jetzt war die Gelegenheit, sie nach Ashley zu fragen, zu begreifen, wie um alles in der Welt ihre Begegnung abgelaufen war, doch als ich mich auf den Stuhl neben sie setzte, sah sie mich nur an und kaute langsam und mit geschlossenem Mund, als wisse sie ganz genau, was ich sie gleich fragen würde, und als fände sie es traurig, dass ich noch immer nicht verstand. Sie schluckte, legte ihre Gabel auf den Tisch, nahm meine rechte Hand und tätschelte sie, als wäre ich ein einsames Kaninchen in einer Tierhandlung. Dann griff sie nach ihrem Glas Milch.
    Und ich begriff, dass mir Sam –
natürlich
 – bereits alles erzählt hatte.

117
    Sie war eine Magische.
    Als ich mich am nächsten Tag von Sam verabschiedete, drückte ich sie ganz fest und küsste sie auf die Wange, dann auf ihre warme Stirn.
    »Wie sehr liebe ich dich?«, fragte ich sie.
    »Wie Sonne plus
Mond

    Ich umarmte Cynthia. Sie rechnete nicht damit.
    »Du bist wunderbar«, flüsterte ich in ihr Haar. »Das warst du schon immer. Tut mir leid, dass ich es nie gesagt habe.«
    Sie sah mich erschrocken an, und ich ging durch die Eingangshalle zur Tür. Ich lächelte den beiden Portiers zu, die uns ganz unverhohlen belauschten.
    »Habt Ihr gehört?
Diese Frau ist wunderbar.
«
    Als ich zu Hause war, holte ich den alten Karton wieder hervor und verteilte die Unterlagen auf dem Fußboden.
    Was hatte ich über mich selbst gelernt, als ich in diesem Hexagon gefangen war?
Du weißt nicht einmal, wo man sie aufmacht.
Das war ein Hinweis darauf, dass ich etwas übersehen hatte, dass ich immer noch nicht das Ganze sah.
    Vielleicht lag ich völlig falsch. Vielleicht verstand ich etwas nicht, das sogar Sam verstanden hatte.
Und Nora. Und Hopper.
    Sie alle drei glaubten an Ashley. Und ich nicht.
    Aber was, wenn ich doch daran glaubte, so blind wie Hopper, Nora – und Sam? War es Blindheit oder sahen sie alle auf eine andere Art als ich? Was, wenn ich die Vernunft und den gesunden Menschenverstand wie einen Fußball vom Platz drosch und an Hexerei zu glauben begann, an

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