Die amerikanische Nacht
Ich spürte, dass wir alle sie wahrnahmen, auch wenn wir ihren Namen nicht zu erwähnen brauchten. Es war offensichtlich, dass Nora und Hopper Ashleys Leben und Tod in ihre Köpfe aufgesogen hatten. Sie glaubten an sie, ohne Fragen zu stellen, ohne zu zweifeln. Sie hatte die Welt für sie in Ordnung gebracht, sogar besser gemacht.
Sie glauben immer noch an den Mythos
, dachte ich,
den Mythos vom Teufelsfluch. Sie leben noch in dieser Zauberwelt – für sie ist Ashley nicht an Krebs, sondern durch einen wilden Racheengel gestorben, und Cordova ist kein katatonischer Pflegefall, sondern ein böser König, der ins Unbekannte geflohen ist.
Sie würden sich für den Rest ihres Lebens auf diese magische Realität berufen können, wenn die Autoschlüssel plötzlich und unerklärlicherweise in der anderen Zimmerecke auftauchten, wenn Kinder spurlos verschwanden oder wenn ihnen jemand ohne guten Grund das Herz brach.
Na klar
, würden sie denken.
Das ist die Magie.
Es fühlte sich an, als seien wir zusammen im Krieg gewesen. Tief im Dschungel, ganz allein, hatte ich mich auf diese Fremden verlassen. Sie hatten mir Halt gegeben, wie es nur Menschen können. Als es vorbei war, auch wenn das Ende sich nicht wie ein Ende anfühlte, bloß wie ein erschöpftes Unentschieden, trennten sich unsere Wege. Doch die gemeinsame Geschichte verband uns für immer, der einfache Umstand, dass sie meine verletzliche Seite kannten und ich ihre, eine Seite, die niemand sonst, nicht einmal enge Freunde und Verwandte, je gesehen hatte oder je sehen würde.
Und nach all dem Lachen, den Witzen und der Musik wurden wir plötzlich ganz still. Wir saßen nebeneinander auf der Holzbank, unter einer Dartscheibe und einem Neonwerbeschild für
Coors Light
. Ich wusste, dass dies der Augenblick war – die Gelegenheit, ihnen die Wahrheit zu sagen.
Ich sah mir Hoppers Profil an. Er hatte den Kopf nach hinten gegen die Wand gelehnt. Nora hingen ihre goldenen Haarsträhnen ins errötete Gesicht. Die Worte dröhnten mir im Kopf.
Ihr könnt euch nicht vorstellen, was sie vor uns verborgen hat. Das war der größte Triumph des Lebens über den Tod – sie hat sich ihrer Krankheit nie ergeben, hat nie aufgehört zu leben.
Plötzlich kam mir der Gedanke, dass Ashley in ihren letzten Tagen vielleicht gar nicht so wahnhaft gewesen war, wie mir Inez Gallo unbedingt hatte weismachen wollen. Vielleicht hatte sie, mit ihrem glänzenden Gespür für die Menschen und dem Herzen, das nicht einmal Gallo ihr nehmen konnte – diesen Augenblick irgendwie so vorgesehen. Vielleicht hatte sie geplant, dass wir drei uns nach ihrem Tod finden würden.
Deshalb hat sie sich für das Lagerhaus entschieden. Sie wusste, dass ich dort nach Hinweisen suchen würde – und dabei Hopper begegnen würde, der sich fragen musste, was die Absenderadresse auf dem Umschlag zu bedeuten hatte. Und wieso hätte sie Nora sonst den Mantel dalassen sollen?
Ich spürte, dass der Augenblick vorbei war. Hopper stand auf und schlurfte durch die Bar, um ein neues Lied in der inzwischen verstummten Jukebox auszuwählen. Nora machte sich auf die Suche nach der Toilette.
Ich blieb, wo ich war.
Also würde ich es dabei belassen.
Eines Tages würde ich den beiden die wahre Geschichte erzählen. Aber jetzt, heute Nacht, sollten sie ihr Märchen behalten.
Stunden später schloss die Bar, grelle Lichter gingen an und löschten die Illusion aus. Es war Zeit zu gehen. Ich war betrunken. Draußen auf dem Gehsteig umarmte ich die beiden und verkündete vor der leeren Stadt – New York City war jetzt endlich ein bisschen schläfrig und sprachlos geworden –, dass sie zwei der besten Menschen seien, denen ich je begegnet war.
»Wir sind eine Familie!«, rief ich den Mietshäusern entgegen, meine Stimme wurde halb geschluckt von der menschenleeren Straße.
»Wir haben’s gehört«, sagte Hopper.
»Aber es stimmt doch«, sagte Nora. »Und zwar für immer.«
»Solange es euch beide gibt«, fuhr ich fort, »braucht sich die Welt keine Sorgen zu machen! Verstanden?« Nora legte kichernd den Arm um mich und versuchte, mich von dem Telefonmast loszueisen, den ich umarmt hielt wie Gene Kelly in »Singin’ in the Rain«.
»Du bist besoffen«, sagte sie.
»Klar bin ich besoffen.«
»Wir sollten nach Hause gehen.«
»Woodward geht nie nach Hause.«
Wir marschierten schweigend los. Wir wussten, dass wir in wenigen Minuten auseinandergehen und uns vielleicht für lange Zeit nicht wiedersehen
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