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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Premiere in das kleine Theater. Als die Lichter ausgeschaltet und der schwere schwarze Vorhang lautstark zur Seite geschoben worden war, sah ich Nora im blauen Licht. Ihr blondes Haar war zu zwei Zöpfen gebunden, und sie kletterte einen wackeligen Wachturm aus Sperrholz hinauf. Sie war überraschend gut – sie sprach ihren Text mit der komischen blauäugigen Arglosigkeit, die ich so oft von ihr gehört hatte. Als sie dem Geist von Hamlettes Mutter begegnete (der die Kostümabteilung seltsamerweise Strapse und einen weißen Body verpasst hatte, so dass sie nicht wie ein Geist aus dem Fegefeuer, sondern wie einer aus dem
Crazy Horse
-Stripclub in Las Vegas daherkam), stolperte Nora, taumelte rückwärts und meldete naiv,
»’s ist hier!«
und
»Es war am Reden, als der Hahn just krähte«.
Das Publikum brach in begeistertes Gelächter aus.
    Das Stück hatte keine Pause. Als es vorbei war – Ophilio hatte sich mit einer Überdosis Antidepressiva umgebracht, Hamlette endlich den Mut aufgebracht, ihre fiese Stiefmutter zu töten, und schließlich war Fortinbrassa und ihre Armee von Freundinnen verspätet, wie man es so machte, in Helsingör eingetroffen, in Nylon-Miniröcken wie aus
Holiday on Ice
 –, blieb ich sitzen.
    Während sich das Theater leerte, merkte ich, dass noch jemand anderes seinen Sitz nicht verließ.
    Hopper. Natürlich.
    Er saß ganz hinten in der letzten Reihe. Er musste sich hereingeschlichen haben, als das Licht schon ausgeschaltet war.
    »McGrath.«
    Genau wie ich hatte er Nora einen Strauß Blumen mitgebracht, rote Rosen. Er hatte sich die Haare schneiden lassen. Seinen grauen Wollmantel und die Chucks trug er noch immer, aber dazu hatte er ein weißes Hemd an, das nicht so aussah, als habe er es auf dem Fußboden seiner Wohnung gefunden. Die Ringe unter seinen Augen waren jetzt nicht mehr so tief.
    »Wie geht’s dir?«, fragte ich.
    Er lächelte. »Ziemlich gut.«
    »Du siehst
gut
aus. Hast du mit dem Rauchen aufgehört?«
    »Noch nicht.« Er wollte noch etwas sagen, doch jetzt hatte er etwas hinter mir entdeckt. Ich drehte mich um und sah Nora, die gerade hinter dem Vorhang hervorgetreten war. Ich war erleichtert zu sehen, dass sie noch immer in den Klamotten des alten Transvestiten herumlief – schwarze Leggings, eins von Moes lila Smokinghemden –, dass sie sich nicht verändert hatte. Denn das passierte in New York ganz schnell. Die Stadt optimierte, schliff, polierte und verputzte einen so, dass man am Ende zwar
gut
aussah, aber genau wie alle anderen.
    Nora umarmte uns fest und winkte ihren Schauspielkollegen zu.
    »Tschüss, Riley! Du warst toll heute!« (Riley, eine hübsche falsche Blondine, hatte die Hamlette gespielt und
Sein oder Nichtsein
mit einer solchen Gravität gesagt, als ginge es um die Frage
SMS oder keine
SMS
?) »Drew, du hast deine Mütze auf dem Requisitentisch liegen lassen.«
    Nora strahlte, aufgedreht von der Energie des Theaters, zog ihren Mantel an und schlug vor, etwas essen zu gehen. Als wir das Theater verließen, hakte sie sich bei uns beiden ein, und so gingen wir den Gehsteig entlang – Dorothy wiedervereinigt mit der Vogelscheuche und dem Blechmann.
    »Woodward, wie geht’s dir? Ich hab’ dich vermisst. Ach ja. Was macht Septimus?«
    »Der ist unsterblich, wie immer.«
    »Ihr habt mir beide Blumen mitgebracht? Seid ihr auf einmal zu Kavalieren geworden?«
    Wir gingen ins Odeon, eine französische Brasserie am West Broadway, die noch spät geöffnet hatte. Wir drängten uns in eine Sitznische und Nora blickte in unsere Gesichter, als seien wir ausländische Zeitungen, die sie endlich in die Finger bekommen hatte und von denen sie sich Neuigkeiten von zu Hause erhoffte.
    »Ihr seht beide
gut
aus. Oh.« Sie zog einen ihrer Handschuhe aus, um uns ihr rechtes Handgelenk zu zeigen. Darauf waren ganz klein drei Worte tätowiert:
    Traue ich mich?
    »Damit ich sie nie vergesse.« Sie biss sich auf die Unterlippe und warf Hopper einen nervösen Blick zu. »Das stört dich doch nicht, oder?«
    Er schüttelte den Kopf. »Ash hätte es gefallen.«
    »Das Tattoo habe ich bei Rising Dragon machen lassen. Aber der Typ, mit dem wir gesprochen haben, Tommy, der ist zurück nach Vancouver gezogen. Deshalb hat es jemand anderes gemacht. Das hat so weh getan. Aber das war’s wert.«
    Ich hatte Tommy ganz vergessen, den Tattookünstler. Dann hatte Gallo also auch ihn seines Weges geschickt.
    Nora deutete meinen verdutzten Blick als Missbilligung. »Mir war klar,

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