Die amerikanische Nacht
Die Kirchen auf Chiloé sahen aus wie nirgendwo sonst auf der Welt, eine Mischung aus europäischer Jesuiten-Kultur und den Traditionen der Ureinwohner dieser Insel. Die Kirchen waren mit Holzschindeln verkleidet, die abblätternden Drachenschuppen ähnelten, von den Kirchtürmen ragten dürre Kreuze empor. Wie die
palafitos
waren auch die Kirchen in kräftigen Farben gestrichen, doch diese Buntheit schien weniger ein Ausdruck von Lebensfreude zu sein, sondern erinnerte eher an das finstere Lachen im Gesicht eines Clowns.
Ich hatte so eine Kirche schon gesehen. Ich kniete mich auf den Boden und durchsuchte meine Unterlagen, bis ich es fand.
In dem
Vanity Fair
-Artikel hatte Ashleys Mitbewohnerin aus dem ersten Studienjahr erwähnt, dass Ashley, als sie abrupt und ohne Erklärung auszog, nur drei Polaroid-Bilder zurückließ, die hinter eine Kommode gefallen und dort vergessen worden waren. Die Schnappschüsse waren in dem Artikel abgedruckt – als Artefakte von Ashleys Existenz, Luken in ihre Welt. Ich hatte kaum einen Blick darauf verschwendet. Als ich mir jetzt das erste ansah, wurde mir schwindlig vor Schreck.
Darauf war eine kleine, übellaunig aussehende Kirche zu sehen. Es war keine exakte Übereinstimmung, aber die Architektur war dieselbe wie bei den Kirchen auf der Insel.
Das zweite Polaroid zeigte einen großen schwarzen Felsen an einem Strand. Darüber kreisten Möwen. Der Felsbrocken hatte in der Mitte ein rätselhaftes Loch, als hätte Gott seinen Daumen hindurchgebohrt, um eine kleine Lücke in der Welt zu hinterlassen. Es kam mir nicht bekannt vor.
Doch auf dem dritten Polaroid-Bild war ein Schwarm Schwarzhalsschwäne zu sehen, einer von ihnen trug seine Jungen auf dem Rücken.
Schwarzhalsschwäne
, erfuhr ich bei Wikipedia, waren in Südamerika verbreitet. Sie brüteten und zogen ihre Jungen jedoch nur an einigen wenigen Orten auf, unter anderem in der
Zona Sur
von Chile, zu der auch Chiloé gehörte.
Ashley schien auf der Insel gewesen zu sein.
Dort musste sie die Polaroid-Aufnahmen gemacht haben.
Ich öffnete Google Earth und betrachtete eine Satellitenaufnahme der Insel. Teile der Hauptinsel,
Isla Grande
, sowie fast alle der kleineren Inseln, die wie Sommersprossen um sie herum lagen, waren unter silbernen Wolken versteckt.
Hatten all diese Beweise mich insgeheim darauf stoßen wollen?
Gallo war so entschlossen gewesen, mich in der
echten Welt
zu halten, im gewöhnlichen Leben, mich davon abzubringen, Cordova weiter zu verfolgen –
aber wohin verfolgen
?
Ich konnte die warnenden Stimmen in meinem Kopf hören, eine der lautesten war die des alten, alkoholabhängigen Reporters in dieser Bar in Nairobi. In seiner dreckigen Khaki-Jacke und dem Tarnanzug hatte er über seinem Drink gehangen und mir vom Schicksal der drei Reporter erzählt, die sich mit diesem verfluchten Fall beschäftigt hatten, dem Fall ohne Ende, dem Bandwurm.
Einer wurde verrückt. Ein anderer kündigte und erhängte sich eine Woche später in einem Hotelzimmer in Mombasa. Der dritte löste sich einfach in Luft auf und ließ seine Familie und seinen tollen Posten bei einer italienischen Zeitung zurück.
»Die hat die Seuche«, hatte der Mann gemurmelt. »
Diese Geschichte.
Manche sind so.«
Ich lehnte mich nachdenklich in meinem Schreibtischstuhl zurück. Erstaunt sah ich, dass Septimus herumflog, wie ich es noch nie von ihm gesehen hatte. Er knallte wie betrunken gegen die Decke, die Fensterscheiben und das »Le Samouraï«-Poster. Seine Flügel schlugen aufgeregt gegen das Glas – oder hatte er Angst, Angst vor dem, was ich bald tun würde, wohin ich gehen würde?
Denn jetzt fiel mir auf, dass die Schicksale der drei Reporter denen der Schauspieler nicht unähnlich waren, die eng mit Cordova zusammengearbeitet hatten und die nach ihrem Abschied von The Peak nie in ein normales Leben zurückgefunden hatten, sondern an die äußeren Ränder der Welt verstreut worden waren. Von den meisten hatte man nie wieder gehört, sie wurden unsichtbar und unergründlich, unerreichbar.
Genau das geschah jetzt mit mir.
Oder nicht?
Ich trat in ihre Fußstapfen und entsandte mich selbst ans Ende der Welt. Flüchtete ich vor etwas oder war ich erst jetzt frei?
Ich konnte es nicht wissen, solange ich nicht gesehen hatte, was dort war, falls dort überhaupt etwas war.
118
Vier Tage später saß ich im Flieger nach Santiago de Chile und anschließend nach Puerto Montt.
Ich durchquerte den Flughafen
El Tepual
zur Gepäckausgabe.
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