Die amerikanische Nacht
den Fundsachen gelegt, sondern angezogen und bin damit raus. Ich hätte irgendeinen Mantel aus der Kiste nehmen können. Aber ich habe ihren genommen.«
Nora starrte auf ihre Hände hinab. Ihr Gesicht war errötet. »Als ich am nächsten Tag im Restaurant ankam, war die Polizei da. Sie haben gesehen, wie ich in dem roten Mantel ankam. Als sie mir sagten, was passiert war, war ich total aufgelöst –
Was hatte ich getan?
Ich hatte Angst, dass sie dachten, ich hätte was damit zu tun. Deshalb habe ich so einen Yves-Saint-Laurent-Mantel aus der Fundsachenkiste genommen und gesagt,
das
sei ihrer.« Sie holte aufgeregt Luft. »Ich war mir sicher, dass sie meine Lüge durchschauen würden, dass sie ihn ihrer Familie zeigen würden. Aber …« Sie schüttelte den Kopf. »Niemand kam, um mich zu befragen. Bis jetzt jedenfalls.« Sie sah mich an. »Nur
du
.«
»Was hatte sie sonst noch an?«, fragte ich.
»Jeans, schwarze Stiefel, ein schwarzes T-Shirt mit einem Engel vorne drauf.«
Dieselben Klamotten, die Ashley trug, als sie starb.
»Hat sie mit dir gesprochen? Erwähnt, ob sie verabredet war?«
Nora schüttelte den Kopf. »Ich habe mein übliches ›Guten Abend‹ und ›Dürfen wir Sie heute zum Essen begrüßen?‹ aufgesagt. Es gibt so ein kleines Begrüßungsskript, das wir auswendig lernen müssen. Aber sie hat nicht geantwortet. Seit dieser Begegnung mit ihr – und bis ich erfuhr, dass sie gestorben ist – hatte ich Albträume. Kennt ihr das, wenn man ganz abrupt aufwacht und noch das Echo im Raum hört, aber keine Ahnung hat, was man gerade so laut herausgeschrien hat?«
Sie erwartete tatsächlich eine Antwort, also nickte ich.
»Genau solche hatte ich. Und Eli, meine Großmutter mütterlicherseits, sagt, am äußersten Rand stehen wir im Einklang mit Dingen aus der vierten und fünften Dimension.«
Ich lächelte. »Gut, ich seh mir das an und melde mich.«
Es schien mir notwendig, sofort einzugreifen, bevor sie uns weitere Weisheiten von Oma Eli auftischte.
»Ich denke, wir sollten Nummern tauschen«, sagte Nora.
Ich hatte ihre schon, also tauschten sie und Hopper ihre Nummern aus. Ich fing gerade an mich zu fragen, wie ich mich von hier wegkatapultieren konnte, als Nora auf ihre Uhr schaute, einen Schrei ausstieß und rasch aus der Sitznische kletterte.
»
Mist.
Ich komm zu spät zur Arbeit.« Sie nahm die Rechnung und durchwühlte ihre Handtasche. »Ah,
nein
.« Sie sah mich an und biss sich auf einen Fingernagel. »Ich habe mein Portemonnaie zu Hause liegen lassen.«
»Kein Problem. Ich übernehme das.«
»Echt?
Danke
! Das kriegst du auf jeden Fall zurück.«
Wenn
das
ein Hinweis auf ihr Schauspieltalent war, würde nicht einmal eine Nachmittagssoap sie nehmen. Sie schloss den Reißverschluss ihrer Tasche, wuchtete sie sich auf die Schulter und schnappte sich die
Whole-Foods
-Tüte.
»Ich kann den Mantel nehmen, dann musst du nicht so viel tragen.«
Sie sah mich kurz misstrauisch an, überlegte es sich dann aber anders und gab mir die Tüte.
»Bis später«, rief sie fröhlich, während sie sich den Weg nach draußen bahnte. Die Drogerietüten knallten ihr vor die Schienbeine. »Und danke für’s Frühstück.«
Ich kletterte aus der Sitznische, sah mir die Rechnung an und stellte fest, dass sie tatsächlich
zwei
Mahlzeiten gegessen hatte: den French Toast mit Kaffee, aber auch Rührei mit Speck, eine Grapefruit und Cranberrysaft.
Die spindeldürre Möchtegern-Judi-Dench hatte also den Appetit eines Sumo-Ringers.
Das musste der Grund sein, warum sie bereit gewesen war zu reden – damit ich ihr Frühstück bezuschusste.
»Was hältst du davon?«, fragte Hopper, der hinter mir vom Sitz rutschte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Jung und leicht zu beeindrucken. Das meiste hat sie sich wahrscheinlich ausgedacht.«
»Genau. Deshalb hast du auch so gelangweilt geguckt und dich fast überschlagen, um den Mantel in die Finger zu bekommen.«
Ich sagte nichts, zog nur zwei Zwanziger aus der Brieftasche.
»Also erstens«, sagte er, »hat sie keine Wohnung.« Er starrte aus dem Fenster, durch das man noch immer Nora Halliday und ihre vielen Taschen auf der anderen Seite der vierspurigen Straße sehen konnte. Sie nutzte die verspiegelte Außenwand eines Gebäudes, um sich die Haare zu einem Pferdeschwanz hochzubinden. Dann nahm sie die Tüten und verschwand hinter einem Lieferwagen.
Hopper strich sich das Haar aus dem Gesicht und nahm mit einem letzten strengen Blick – der deutlich
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