Die amerikanische Nacht
Seasons gegeben hatte. Jemand musste ihr die Haustür geöffnet haben. Ich wollte so tun, als sei ich nicht zu Hause, aber dann klopfte sie wieder, und ich wusste, dass der alte Holzfußboden in meiner Wohnung bei jedem Schritt knarrte. Sie konnte also hören, dass ich da stand.
Ich öffnete die Tür. Sie trug eine engsitzende schwarze Wolljacke mit einem Kragen aus Straußenfedern, eine schwarze Strumpfhose, Stiefel und einen Nylon-Minirock mit Zebramuster. Das Ganze sah aus wie ein Eiskunstlaufkostüm der olympischen Winterspiele in Lillehammer. Sie hatte keine Einkaufstüten dabei, nur ihre graue Ledertasche. Ihr langes blondes Haar trug sie in zwei geflochtenen Zöpfen um den Kopf gewickelt.
»Hallo«, sagte ich.
»Hallo.«
»Was machst du hier?«
»Ich bin zum Arbeiten da.«
»Es ist acht Uhr morgens.«
Sie knibbelte an einer Kruste am Saum ihrer Jacke. »Ja, naja, ich dachte, du könntest jemanden gebrauchen, um ein paar Ideen durchzuspielen.«
Ich war kurz davor, ihr zu sagen, sie solle morgen wiederkommen – anschließend hätte ich natürlich
umziehen
oder einem Zeugenschutzprogramm beitreten müssen –, aber dann fiel mir ein, was Hopper bemerkt hatte: Das Mädchen hatte keine Wohnung. Und sie sah tatsächlich blass und leicht erschöpft aus.
»Willst du auf einen Kaffee reinkommen?«
Sie strahlte.
»Gerne.«
»Ich muss gleich zu einem Termin, viel Zeit habe ich nicht.«
»Kein Problem.«
»Was hast du eigentlich an?«, fragte ich, als ich sie durch den Flur zum Wohnzimmer führte. »Deine Mutter lässt dich bestimmt nicht so vor die Tür, oder?«
»Doch, klar. Die erlaubt mir alles. Sie ist tot.« Sie schleuderte ihre Tasche neben das Sofa – sie musste mindestens eine Bowlingkugel darin verstaut haben.
»Aber die
Großmutter
, von der du geredet hast, die lässt dich nicht so vor die Tür.«
»Eli?« Sie holte alles aus diesem Namen heraus: III - LAI . »Die ist auch tot.«
Etwas sagte mir, ich sollte besser aufhören, jetzt, da es eh schon zu spät war.
»Was ist mit deinem Vater?«
Sie beugte sich vor, um das Gemälde über dem Kamin zu betrachten.
»Der ist im Starke.«
»Starke?«
»Staatsgefängnis Florida. Da gibt’s einen Old Sparky.«
Old Sparky
– das war ein Spitzname für den elektrischen Stuhl. Ich hoffte, sie würde klarstellen, dass ihr Vater dort nicht selbst auf ein Treffen mit Old Sparky wartete, doch sie sah sich jetzt die Bücher im Regal an und ließ diesen Strang der Unterhaltung wie das Ende einer Luftschlange, die sie nicht befestigen wollte, im Raum hängen.
»Wie trinkst du deinen Kaffee?«, fragte ich auf dem Weg in die Küche.
»Milch, zwei Zucker. Aber nur, wenn’s keine Umstände macht.«
»Das macht keine Umstände.«
»Du hast nicht zufällig was zu essen da?«
Ich versorgte das Mädchen in meinem Wohnzimmer mit Kaffee, zwei getoasteten Muffins mit massig Butter und Marmelade und einem Exemplar meines Buches
Kokain und Karneval.
Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass kein Bargeld oder sonstige Wertgegenstände herumlagen, die sie an ihre fleischfressende Tasche verfüttern konnte, ging ich in mein Büro, um die Wegbeschreibung nach Briarwood Hall auszudrucken.
Ich versuchte auch noch einmal, mich auf der Blackboards-Seite einzuloggen, doch wie zuvor erhielt ich nur die Aufforderung, sofort zu verschwinden.
Meine IP -Adresse schien gesperrt zu sein.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Nora es sich gemütlich gemacht. Sie hatte die Stiefel ausgezogen, sich eine Wolldecke über die Beine gelegt und einen Teil des Inhalts ihrer Tasche auf meinem Couchtisch verteilt: zwei Theaterstücke, einen Lippenstift, ihren ramponierten Discman.
»Wer ist C. L. M .?«, fragte sie mich und blätterte ein paar Seiten zurück, um sich die Widmung anzusehen.
»Meine Ex-Frau.«
Sie war überrascht. »
Du
hast eine
Ex
-Frau?«
»Hat das nicht jeder?«
»Wo ist sie?«
»Wahrscheinlich beim Work-out mit ihrem Personal Trainer.«
»Hast du Kinder?«
»Eine Tochter.«
Das brachte sie zum Nachdenken. Ich fand, dies sei der richtige Zeitpunkt, um ihre unklaren Wohnverhältnisse anzusprechen.
»Wo genau wohnst du eigentlich?«, fragte ich.
»In Hell’s Kitchen.«
»Und wo in Hell’s Kitchen?«
»Ecke Ninth und so was wie 52 nd.«
»
So was wie
52 nd?«
»Ich bin gerade erst eingezogen, ich kann mir die Querstraße nicht merken. Davor habe ich auf dem Schlafsofa eines Freundes übernachtet.« Sie fing wieder an zu lesen.
»Hast du
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