Die amerikanische Nacht
sagen, kann vertraulich behandelt werden«, fügte Nora hinzu.
Er starrte in das dunkle Wasser des Planschbeckens und schien auch das zu akzeptieren. Mir wurde klar, es war ihm völlig egal,
wer
wir waren. Manche Menschen hatten an einem Geheimnis so schwer zu tragen, dass sie es einem Fremden, der bereit war zuzuhören, von sich aus verrieten.
»Stace weiß davon nichts«, sagte er. »Sie denkt, ich bin gefeuert worden, weil Briarwood herausbekommen hat, dass wir Adventisten sind.«
»Dabei wird’s auch bleiben«, sagte Hopper. »Wie haben Sie Ashley kennengelernt?«
Doch Morgan hörte nicht mehr zu. Etwas im Planschbecken hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er drehte sich stirnrunzelnd um und suchte im Hof nach etwas. Er ging ein paar Schritte, hob einen abgefallenen Ast auf und fischte damit im Becken zwischen den verrottenden Blättern und dem Schlamm.
Etwas Sperriges schwamm dort im Wasser und hüpfte über den Boden des Beckens.
Er erwischte es mit dem Ast und zog es zu sich hin.
Ich dachte, es sei ein ertrunkenes Tier – ein Eichhörnchen oder ein Opossum. Nora hatte den gleichen Gedanken. Sie starrte mich entsetzt an, als Morgan ins Wasser griff und das triefende Ding herausholte.
Es war eine Babypuppe aus Plastik.
Ihr fehlte ein Auge, sie hatte eine Halbglatze, und aus ihr lief schwarzes Wasser heraus. Trotzdem zeigte sie ihr manisches pausbäckiges Lächeln, in den Resten der gelben Haare klebten Blätter. Sie hatte ein weißes Rüschenkleid an, das jetzt fleckig schwarz war. Aus dem Hals wuchs eine Art Pilz wie schimmeliger Blumenkohl. Die dicken kleinen Arme griffen ins Nichts.
»Ich hab wochenlang das Haus auf den Kopf gestellt wegen dem Teil«, murmelte Morgan kopfschüttelnd. »Meine Tochter hat drei Tage am Stück geheult, als sie weg war. Konnte sie nicht finden. Als ob die Puppe keine Lust mehr hatte und einfach abgehauen ist. Ich hab ihr gesagt, dass sie weg ist, dass sie jetzt bei Gott im Himmel ist. Und die ganze Zeit war sie hier draußen.«
Er schmunzelte über die Ironie, es klang angespannt und frustriert.
»Wie ist Ashley aus Briarwood entkommen?«, fragte Hopper. Er warf mir einen Blick zu, der erkennen ließ, dass ihm der Mann nicht ganz geheuer erschien.
»Mit mir«, antwortete Morgan schlicht. Er starrte noch immer auf die Puppe.
Hopper nickte und wartete, dass er weitersprach. Doch das tat er nicht.
»Und wie?«, ermunterte Hopper ihn mit leiser Stimme.
Jetzt sah Morgan wieder uns an, als habe er sich gerade daran erinnert, dass wir da waren. Er lächelte traurig. »Schon komisch, dass die Nacht, die dein Leben für immer verändert, so anfängt wie alle anderen.«
Er hatte die Puppe am Bein gefasst und ließ seinen Arm herunterbaumeln. Das Kleid fiel ihr über den Kopf und legte Rüschenunterwäsche frei. Schwarzes Wasser tropfte auf das Gras.
»Ich bin für einen Kumpel eingesprungen«, sagte er. »Nachtschicht, neun bis neun. Stace hasste es, wenn ich die Nacht durcharbeitete, aber ich mochte es, nachts die Monitore zu überwachen. Das ist leichte Arbeit. Ich bin der Einzige in den hinteren Räumen der Zentrale. Die Patienten schlafen. Die Flure sind still und friedlich. Das ist, als wäre man der letzte lebende Mensch.« Er räusperte sich. »Ich glaube, es war ungefähr drei Uhr nachts. Ich hab nicht wirklich aufgepasst. Ich hatte ein paar Zeitschriften dabei. Das durfte man nicht, aber ich hatte das schon tausendmal gemacht. Es passiert nichts. Es passiert nie irgendwas, außer dass die Pflegerinnen bei den Code-Rot-Leuten vorbeigucken.«
»Und was bedeutet Code Rot?«, fragte ich.
»Patienten, bei denen Selbstmordgefahr besteht.«
»Was ist mit Code Silber?«, fragte Hopper.
»Das sind die Patienten, die getrennt aufbewahrt werden, weil sie sich selbst und andere verletzen könnten. Ich überwachte die ganze Nacht die Monitore. Es war eine Nacht wie jede andere. Ziemlich ruhig. Ich guck mir gerade eine Zeitschrift an, als ich auf dem Monitor etwas sehe. Einen der Musikräume im Straffen Haus. Da ist jemand
drin
. Aber gerade als ich das sehe, schaltet der Monitor um. Alle zehn Sekunden ist eine andere Kamera dran. Man kann die Abfolge unterbrechen, um sich die Live-Bilder einer Kamera länger anzusehen. Ich unterbreche also und gehe zum Musikraum zurück. Da ist ein
Mädchen
. Eine Patientin, denn sie trägt den vorgeschriebenen weißen Schlafanzug. Sie sitzt am Klavier. Die Kamera hängt oben in der Zimmerecke, deshalb gucke ich auf sie
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