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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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immer auf der hellen Seite des Weges. Als ob sie sich auflösen würde, wenn sie auf einen Schatten trat oder so. Sie war da sehr vorsichtig.«
    Ich runzelte erstaunt die Stirn und versuchte mir diese Art der Fortbewegung vorzustellen, von Lichtinsel zu Lichtinsel, die dunklen Pfützen vermeidend. Ich dachte an den Aufstieg durch die Hängenden Gärten zum Dach des Lagerhauses in Chinatown – war dort durchgehend genügend schwaches Licht gewesen, um bis nach oben zu gelangen? Und am Reservoir See im Central Park, wo sie in ihrem roten Mantel von einem Laternenlicht zum nächsten flackerte, war es größtenteils stockdunkel gewesen.
    »Was ich noch herausgefunden habe«, fuhr Morgan fort, »ist, dass die Ärztin, die sie behandelte, eine Mitteilung an die gesamte Klinik rausgegeben hat, dass sie kein Klavier spielen durfte. Es hieß, das würde bei ihr manische Schübe auslösen. Die Mitteilung ging an dem Tag raus, an dem ich Ashley zum ersten Mal sah. Es war so, als ob sie spielen
musste
. Als ob sie nichts davon abhalten konnte.«
    Er verstummte für einen Augenblick.
    »In der achten Nacht, in der ich ihr zusah, fiel mir auf, dass sie beim Rausgehen etwas aus der Tasche holte und eine Sekunde lang beim Klavier stehen blieb. Es ging schnell. Ich war mir nicht sicher, was ich gesehen hatte. Ich spulte zurück und sah, dass sie etwas hineingetan hatte. Ich wartete, bis meine Schicht zu Ende war und ging rüber zum Straffen Haus in den Musikraum im ersten Stock. Als ich reinkam, roch es noch nach ihr. Man konnte sie
spüren
. Ein Parfüm und wahrscheinlich so eine Wärme. Ich ging zum Klavier und guckte unter dem Deckel nach. Zwischen den Saiten klemmte ein gefalteter Zettel. Ich nahm ihn, aber wartete, bis ich in meinem Auto saß, bevor ich ihn las.«
    Er hielt inne, es war ihm sichtlich unangenehm.
    »Was stand drauf?«, fragte ich.
    »Morgan!«
    Eine Fliegengittertür wurde aufgestoßen.
    »Was machst du immer noch hier draußen?«
    Stace stand auf der Terrasse. Sie hielt das Baby gegen die Brust gedrückt und schützte ihre Augen mit der Hand vor dem grellen Licht. Hinter ihr ging noch ein Kind, ein etwa vierjähriges Mädchen in einem weißen Nachthemd, das mit Kirschen bedruckt zu sein schien.
    »Sind die
immer noch
nicht weg?«
    »Alles gut!«, rief Morgan. Er wandte sich zu uns um und flüsterte, »Fahrt die Einfahrt runter und wartet da auf mich, okay?«
    Er eilte über den Rasen zurück zum Haus.
    »Mein Gott. Ich hab doch gesagt, du sollst sie
abwimmeln

    »Die sind von der Personalabteilung. Es geht um eine Umfrage. Guck mal, was ich gefunden habe.«
    »Aber wir dürfen nicht – was ist
das
denn?«
    »
Baby.
Ich hab sie aus dem Becken gerettet.«
    »Bist du verrückt?«
    Das Mädchen schrie auf, bestimmt, weil sie die Puppe gesehen hatte. Nora und Hopper gingen schon über die Wiese. Ich lief hinterher. Als wir ins Auto stiegen, waren die Devolds bereits wieder ins Haus gegangen. Ihr Geschrei war noch über dem Heulen des Windes zu hören.

21
    »Offenbar hat sich Morgan in Ashley verliebt«, sagte Nora.
    »Kann man ihm das verdenken?«, fragte ich. »Er ist mit
Es
verheiratet. Ich beziehe mich auf das Buch von Stephen King.«
    »Der ist ein Freak, sonst nichts«, sagte Hopper.
    Ich drehte mich zu ihm um. »Kannst du dich erinnern, ob Ashley im Six-Silver-Lakes-Camp Nyktophobie hatte?«
    Er starrte mich zornig an und blies Zigarettenrauch aus dem Fenster. »Auf
keinen Fall

    Wir waren mit dem Auto ans Ende von Devolds Einfahrt gefahren. Wir warteten bereits seit 45  Minuten darauf, dass er wiederkam. Die Scheinwerfer erhellten den Weg, der sich vor uns durch das dichte Gebüsch wand, ansonsten war es hier draußen stockdunkel und vollkommen menschenleer. Der Wind war stärker geworden. Er pfiff beharrlich gegen das Auto und ließ die Zweige nervös gegen die Frontscheibe klopfen.
    »Der kommt wahrscheinlich nicht mehr«, brummte ich. »Stace hat ihm wahrscheinlich den Maulkorb wieder angelegt und ihn zurück in seinen Käfig im Keller gesperrt.«
    »
So
schlimm war sie nicht«, sagte Nora und warf mir einen Blick zu.
    »Lass mich dir versichern, als einzige Person in diesem Auto, die die dunkle Seite der Ehe kennt und überlebt hat. Die
ist
schlimm. Neben der wirkt meine Ex-Frau wie Mutter Teresa.«
    »Der kommt wieder«, murmelte Hopper. »Er kann nicht anders.«
    »Warum?«
    »Er will unbedingt über sie reden.«
    Er drückte die Zigarette an der Scheibe aus und schnippte den Stummel aus dem

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