Die amerikanische Nacht
Fenster.
Nora schnappte nach Luft, als der Mann plötzlich ins Scheinwerferlicht trat.
Ich hatte keine Ahnung, wie wir es geschafft hatten, seine Schritte
nicht
zu hören, aber da stand er. Es war etwas Seltsames an der Art, wie er da in seinem ausgeblichenen blauen Flanellhemd stand und uns unbehaglich anblinzelte. Den Kopf hielt er wie verschüchtert seltsam angewinkelt. Keiner von uns sagte ein Wort.
Irgendwas stimmte nicht.
Doch wieder öffneten Hopper und Nora ihre Türen und stiegen aus. Ich wartete, um den Kerl noch ein paar Sekunden zu beobachten. Sein plötzliches Auftauchen, seine gespenstische Blässe, all das deutete darauf hin, dass er sich unwohl fühlte, dass er vielleicht sogar verletzt war.
Ich stieg aus, die Schweinwerfer hatte ich angelassen.
»Ich hab nur fünf Minuten«, sagte Morgan nervös. »Sonst holt Stace die Schrotflinte.«
Das musste ein Witz sein, doch er sagte es ganz ernst.
Er blinzelte und hielt uns einen gefalteten Zettel hin.
Hopper schnappte ihn sich sofort und warf Morgan einen misstrauischen Blick zu, während er den Zettel im Licht der Scheinwerfer öffnete. Er las, ohne eine Miene zu verziehen, und gab den Zettel an Nora weiter, die mit aufgerissenen Augen las und mir die Nachricht reichte.
Der Zettel war von einem Notizblock abgerissen worden. Die Nachricht war per Hand und mit einem schwarzen Stift in Großbuchstaben geschrieben.
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»Die Planung dauerte drei Wochen«, sagte Morgan. »Ich hab die alten Bänder benutzt. Die würden laufen anstelle der Live-Bilder. Der Timecode wäre falsch, aber da achtete keiner drauf. Ich ging runter in den Lagerraum, wo sie den persönlichen Besitz der Patienten bis zur Abreise aufbewahren, und habe ihre Sachen geholt und in einem Karton in meinem Haus aufbewahrt. Sie hatte nur einen rotschwarzen Mantel. Richtig schick.«
»Und das war’s?«, fragte ich. Es war auffallend, wie genau er von ihren Sachen erzählte. Ich konnte nicht anders, als mir vorzustellen, wie er mitten in der Nacht, wenn Stace schlief, aus dem Bett schlüpfte und in seinen dunklen Keller schlich, um den Karton zu öffnen und ihren roten Mantel anzustarren –
den
Mantel.
»Ja«, sagte er. »Mehr hatte sie nicht.«
»Kein Handy? Keine Handtasche?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Was ist mit Kleidung?«
»Nichts. Ihr Vater ist berühmt. Er dreht Hollywoodfilme. Ich dachte mir, sie will bestimmt ein paar schöne Sachen, deshalb habe ich ihr eine Nachricht hinterlassen und sie nach ihren Größen gefragt. Dann habe ich mir einen Tag freigenommen, bin nach Liberty gefahren und habe ihr eine Jeans, schwarze Stiefel und ein schönes schwarzes T-Shirt mit einem Engel vorne drauf gekauft.«
Ashley trug genau diese Klamotten, als sie starb.
»Sobald ich die Einzelheiten geklärt hatte«, fuhr er fort, »ging ich in den Musikraum und steckte eine Nachricht für Ashley zwischen die Saiten des Klaviers, genau wie sie es gemacht hatte. Darauf stand, dass sie ›Twinkle, Twinkle Little Star‹ spielen sollte, wenn sie soweit war. Das war das Zeichen für mich. In der nächsten Nacht würde ich sie um zwei Uhr nachts abholen, wenn ihre Pflegerin und der Wachmann es im Heizungsraum trieben.«
»Warum gerade
dieses
Lied?«, fragte ich.
»Sie hatte es schon mal gespielt.« Er lächelte. »Es erinnerte mich an sie. An diesem Abend musste Stace ins Krankenhaus und durfte das Bett nicht verlassen. Ich musste wieder zur Tagschicht wechseln. Ich habe Ashley eine Woche nicht gesehen. Ich hatte Angst, dass ich verpasst hatte, wie sie es spielt. Aber in der ersten Nacht, in der ich wieder Dienst hatte, kam sie in den Musikraum gerannt. Ich bin fast durchgedreht, weil ich nicht wusste, ob sie es spielen würde. Aber sie tat es. Ganz zum Schluss. Von da an wusste ich, dass wir es machen.«
Er starrte uns an, Lichttupfer erhellten seine kleinen Augen. Die Erinnerung hatte ihm neue Energie verliehen.
»In der nächsten Nacht habe ich gegen eins die alten Bänder eingelegt. Dann habe ich dem diensthabenden Wachmann, der vorne sitzt, gesagt, dass wir uns wieder Sorgen um Staces Schwangerschaft machten und ich nach Hause musste. Ich geh direkt zum Maudsley Haus und denke, dass ich mich zu Ashleys Zimmer hochschleichen muss, um sie abzuholen. Aber sie steht schon längst vor dem Haus und wartet auf mich, in ihrem weißen Schlafanzug. Mein Herz pocht wie verrückt. Ich bin nervös wie ein verdammtes Schulkind, denn das war ja das erste
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