Die amerikanische Nacht

herunter, ein bisschen über ihre Schulter. Ich kann nur sehen, wie schnell sich ihre dünnen Arme bewegen, ihre dunklen Haare hatte sie geflochten. Ich hatte sie noch nie gesehen. Ich arbeite meistens am Tag, da lernt man die Patienten kennen. Ich schalte den Ton zu und drehe den Lautsprecher auf …«
    Er verstummte und strich sich mit der Hand über den Kopf, als könne er nicht glauben, was er gleich sagen würde.
    »Was?«, fragte ich.
    »Es hat mich wahnsinnig gemacht.«
    »Wieso?«
    »Das war wie eine Aufnahme. Die meisten Patienten klimpern so Sachen wie ›Heart and Soul‹. Ich dachte erst, sie ist einer dieser
Polt
- äh …«
    »Poltergeist«, warf Nora eifrig ein.
    »Ja. Irgendwas, das es nicht gibt. Sie spielte so brutal, Kopf runter, die Hände bewegten sich so schnell. Dann dachte ich, ich dreh durch. Dass ich komische Sachen sehe. Ich will Alarm auslösen, aber irgendwas lässt mich zögern. Sie beendet das Stück und fängt ein anderes an. Und bevor ich es merke, obwohl ich schon den Finger auf dem Knopf habe, um den Verstoß zu melden, ist eine halbe Stunde um. Und noch eine. Als sie aufhört zu spielen, bleibt sie ganz lange still sitzen. Dann hebt sie ganz langsam den Kopf. Ich konnte ihr Gesicht von der Seite sehen, aber es war, als ob …«
    Er verstummte und schüttelte sich vor Unbehagen.
    »Als ob
was
?«, fragte Hopper.
    »Sie wusste, dass ich ihr zusehe.«
    »Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
    Er sah mich ernst an. »Sie konnte mich
sehen
.«
    »Sie hat die Kamera an der Decke entdeckt?«
    »Mehr als das. Sie stand auf, und an der Tür drehte sie sich um und lächelte
mich an
.« Er hielt inne, er konnte es noch immer nicht glauben. »So was wie sie hatte ich noch nie gesehen. Ein schwarzhaariger Engel. Dann ist sie rausgegangen. Ich habe sie verfolgt. Habe sie beobachtet, wie sie durch den Flur nach draußen ging. Sie war schnell. Gar nicht leicht, sie bei den vielen verschiedenen Kameras nicht zu verlieren. Ich folge ihr die Wege entlang bis zum Maudsley Haus. Ich dachte, da wird sie bestimmt erwischt, aber sie geht rein und aus irgendeinem verrückten Grund ist da kein Wachmann am Empfang.«
    Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Sie rennt rein und die Treppe hoch, so schnell, als würden ihre Füße gar nicht den Boden berühren. Sie geht ganz hoch in den zweiten Stock und rennt in ihr Zimmer. Das kann ich auch nicht glauben. Sie ist Code Silber, das heißt, sie wird rund um die Uhr von einer Pflegerin bewacht. Ich gucke weiter. Zwanzig Minuten später sehe ich den Wachmann und die für ihre Etage zuständige Pflegerin. Sie kommen fröhlich aus dem Keller, und irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass sie da unten Wäsche gewaschen haben. Die haben was am Laufen. Das Mädchen wusste das.« Er hielt inne und rieb sich die Nase. »Als Allererstes lösche ich die Bänder. Die überprüft eh nie jemand. Nur, wenn ein Problem gemeldet wird. Aber ich lösche sie, um sicherzugehen. Am nächsten Morgen stelle ich einen Antrag auf extra Nachtschichten.«
    »Warum das denn?«, fragte Hopper leicht vorwurfsvoll.
    »Ich musste sie wiedersehen.« Er zuckte verlegen mit den Schultern. »Sie kam jede Nacht, um da Klavier zu spielen. Und ich habe zugesehen. Die Musik …« Er schien die richtigen Worte nicht zu finden. »Genau das wird man im Himmel hören, wenn man das Glück hat, da zu landen. Sie ignorierte mich die ganze Zeit, bis ganz zum Schluss, dann sah sie mich an.« Morgan betrachtete lächelnd den Boden. »Ich musste herausfinden, wer sie war. Ich hatte keine Befugnis, die Patientenakten einzusehen. Aber das war mir egal. Ich musste es wissen.«
    »Was haben Sie herausgefunden?«, fragte ich.
    »Sie hatte Angst vor der Dunkelheit. Das nennt man
Nycta
irgendwas …«
    »Nyktophobie?«, warf Nora ein.
    »Genau das. Ich hab’s nachgeschlagen. Wer das hat, dreht im Dunkeln durch. Die zittern und verkrampfen. Die denken, sie ertrinken. Manchmal werden sie ohnmächtig. Oder bringen sich um.«
    »Moment mal«, unterbrach ich ihn. »Saß Ashley nicht im Dunkeln, als Sie sie durch die Kamera beobachtet haben?«
    Morgan schüttelte den Kopf. »In Briarwood ist es nachts richtig hell. Die Wege und das Hauptgelände sind aus Sicherheitsgründen beleuchtet. Die Lampen in den Gebäuden sind mit energiesparenden Bewegungsmeldern ausgestattet. Manche schalten sich sogar nur verzögert ein. Mir fiel auf, dass sie wartete, bis das nächste Licht anging, bevor sie weiterging. Draußen blieb sie