Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
Vom Netzwerk:
Mal, dass ich sie in echt sah. Sie hat einfach meine Hand genommen und dann sind wir zusammen über den Rasen gerannt.« Er lächelte verlegen. »Es war, als würde
sie mich
führen. Als hätte sie alles geplant. Ich öffnete den Kofferraum, sie kletterte rein, und wir fuhren los, einfach so.«
    »Aber war’s im Kofferraum nicht dunkel?«, fragte Nora. »Wenn Ashley unter Nyktophobie litt, wäre sie da niemals reingeklettert.«
    Morgan lächelte stolz. »Darauf war ich vorbereitet. Ich hatte zwei Taschenlampen da drin, damit sie keine Angst haben musste.«
    »Wurden Sie am Torhaus angehalten?«, fragte ich.
    »Klar. Aber ich hab gesagt, dass meine Frau einen Notfall hatte, und dann hat er mich durchgelassen. Sobald wir draußen waren, hielt ich an, damit Ashley aus dem Kofferraum steigen konnte. Ich hab sie hierhergebracht, damit sie duschen und sich umziehen konnte. Außerdem musste ich meine Tochter ins Bett bringen. Stace war immer noch im Krankenhaus, deshalb passte unsere Nachbarin auf unser Kind auf. Ich fragte Ashley, wo sie hin wollte, und sie sagte, zum Bahnhof in New Hamburg, weil sie nach New York City zurückmusste.«
    »Hat sie gesagt, wieso?«, fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie war verabredet.«
    »Mit wem?«, fragte Hopper.
    »Keine Ahnung. Sie war schüchtern. Hat nicht geredet. Sah mich nur an. Aber sie mochte mein kleines Mädchen, Mellie. Sie hat ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen, als ich mit Stace im Krankenhaus telefonierte.«
    »Wohin genau wollte Ashley?«, fragte ich.
    »Walford Towers? Oder so ähnlich.«
    »Hat sie Ihnen das verraten?«
    Er guckte schuldbewusst. »Nein. Sie hat mich gebeten, das Internet benutzen zu dürfen, als sie hier war. Als sie im Bad war, habe ich im Browser nachgesehen, wonach sie gesucht hatte. Es war die Website eines Hotels in der Park Avenue.«
    »Das Waldorf Towers?«, schlug ich vor.
    Morgan nickte. »Genau das. Als sie umgezogen war, zog sie diesen roten Mantel an und sah wie das hübscheste Ding aus, das ich je gesehen habe. Ich fuhr sie nach New Hamburg. Wir kamen da gegen vier Uhr morgens an. Ich gab ihr ein bisschen Bargeld und ließ sie im Auto zurück, um zwei Tickets nach Grand Central zu kaufen.«
    »
Zwei
Tickets?«, fragte ich.
    Er nickte peinlich berührt.
    »Sie wollten mit ihr fahren.«
    Er starrte zu Boden. »Jetzt klingt es verrückt. Aber ich bin ein Romantiker. Ich dachte, wir fahren zusammen. Sie lächelte mich die ganze Zeit an. Aber als ich mit den Tickets zurück zum Auto kam, war sie weg. Ich sah, dass ein Zug eingefahren war. Ich rannte zum Bahnsteig, aber die Türen waren schon zu. Ich ging den Zug entlang und suchte in jedem Abteil nach ihr, es machte mich ganz krank, aber dann fand ich sie. Sie saß direkt am Fenster. Ich klopfte. Ganz langsam drehte sie den Kopf und starrte mich an. Den Blick, mit dem sie mich ansah, werde ich für den Rest meines Lebens nicht mehr vergessen.«
    Einen Augenblick lang sagte er nichts. Er hatte die Schultern hochgezogen.
    »Sie erkannte mich nicht.«
    Er atmete aus, seine Atmung war unregelmäßig.
    »Und kurz darauf wurden Sie gefeuert?«, fragte ich leise.
    Er nickte. »Als herauskam, dass Ashley weg war, hat man alles zu mir zurückverfolgt.«
    »Wann haben Sie gehört, dass sie tot war?«
    Er blinzelte. »Der Leiter der Klinik rief mich zu sich.«
    »Allan Cunningham?«
    »Ja. Er sagte, die Polizei würde nicht eingreifen, wenn ich eine Vertraulichkeitserklärung unterschrieb, in der stand, dass ich alleine gehandelt hatte, und wenn ich nie darüber reden würde …«
    »Morgan!«
    Das war wieder Stace. Ihre Stimme hatte uns alle aufgeschreckt, nicht nur durch ihren schrillen Klang, sondern weil sie so nah bei uns war. Wir konnten sie nicht sehen, aber schwere Schritte kamen auf dem dunklen Schotterweg auf uns zu.
    »
Morgan
! Sind diese Leute immer noch da?«
    »Sie sollten besser gehen«, zischte Morgan uns zu.
    Bevor ich es verhindern konnte, hatte er mir den Zettel aus der Hand gerissen und rannte die Einfahrt hinauf.
    Ich lief hinter ihm her.
    »Den Zettel – den würden wir gerne behalten …«, rief ich.
    Aber er sprintete mit einer bemerkenswerten Geschwindigkeit. Ich kam kaum hinterher.
    Plötzlich erschien Stace oben auf dem Hügel. Ich erstarrte. Sie hatte keine Schrotflinte im Anschlag, sondern etwas noch Erschreckenderes, sie hatte
Kinder
dabei. Sie trug noch immer das halbnackte Baby im Arm, und das Mädchen im Nachthemd ging an der Hand seiner Mutter

Weitere Kostenlose Bücher