Die amerikanische Nacht
er nicht ruckartig seinen Kopf zur Seite geworfen und mich mit einem trüben gelben Auge angesehen hätte, das wie eine alte Glasperle aussah.
Nora ging mit dem Gesicht nahe an ihn heran.
»Versprichst du, es keinem zu verraten?«, fragte sie leise und sah mich an.
»Was verraten?«
»Das hier. Ich will nicht, dass mich jemand bemitleidet.« Sie wandte ihre Augen vom Vogel ab und sah mich mit festem Blick an.
»Versprochen.«
Sie lächelte zufrieden und machte sich wieder ans Packen. Sie sammelte jedes einzelne Pfeffer- und Salztütchen auf und streute sie in die Drogeriemarkttüten.
»Ich hab eigentlich Gewürze da«, sagte ich.
Sie nickte – als hätte ich sie daran erinnert, einen Schlafanzug einzupacken – und fing an, schwarze Strumpfhosen und BH s herunterzuziehen, die sie zum Trocknen in den oberen Regalen aufgehängt hatte, wilde Leoparden- und Zebramuster, die mit Black & Decker-Bohrmaschinen und Farbdosen festgeklemmt waren.
Das Mädchen war wie eines dieser Bilderbücher, deren Seiten sich immer weiter aufklappen lassen, und die bei Kindern für große Augen sorgen. Ich vermutete, sie würde nie aufhören, sich immer weiter aufzuklappen.
Nachdem Nora ihre Klamotten gepackt hatte, nahm sie Jesus und Judy Garland von der Wand. Jesus ließ sich leicht abnehmen. Judy musste, wie zu erwarten, etwas überredet werden. Sie schnappte sich das
Harmony-High
-Jahrbuch, öffnete es und legte die beiden Bilder vorsichtig hinein. Dann steckte sie Septimus in seinen Käfig zurück.
Während ich auf den armeegrünen Klacks starrte, realisierte ich, dass der Vogel auf meine Hand geschissen hatte.
»Fertig.
Ach.
Das hätte ich fast vergessen.«
Sie wühlte in ihrer Handtasche herum und reichte mir ein Farbfoto. Ich dachte, sie wolle mir einen Verwandten von ihr zeigen, doch dann stellte ich überrascht fest, dass es ein Foto von Ashley war.
Sie saß an einem Picknicktisch und blickte angespannt in die Kamera. Hinter ihr aßen Leute –
Patienten aus Briarwood
, wie ich erkannte. Ein fröhlicher, heller Tag. Und doch war sie allein im Schatten, und sehr dünn.
Der Blick ihrer grauen Augen, durch die dunklen Augenringe ganz hohl, schien auf mich geheftet zu sein.
»Bei der Führung in Briarwood bin ich abgehauen, um
das
hier zu holen. Ich hatte es an einer der Pinnwände in der Nähe des Speisesaals gesehen. Das ist sie doch, oder?«
La cara de la muerte
, hatte das Zimmermädchen im Waldorf gesagt. Das Gesicht des Todes.
Ich verstand, was sie damit meinte.
27
Am nächsten Morgen weckte mich um 5 : 42 Uhr ein Knarren vor meiner Schlafzimmertür. Schritte gingen über den Flur, gefolgt vom Rauschen der Wasserleitungen, dann eher ein Schleichen zurück in Sams Zimmer und schließlich nach unten, wo in der Küche mit Tellern und Gläsern geklappert wurde, als würde jemand ein Abendessen für fünfundzwanzig Gäste vorbereiten.
Obwohl ich nicht sicher war, ob, wenn ich tatsächlich aufstand, alles Wertvolle aus meiner Wohnung verschwunden sein würde, schlief ich wieder ein. Ein leises Klopfen an der Tür weckte mich erneut.
»Ja«, murmelte ich.
»
Oh.
Hab ich dich geweckt?«
Die Tür öffnete sich knarrend, dann war Stille. Ich öffnete ein Auge. Auf dem Wecker stand 7 : 24 . Nora wartete in der Tür und sah mich an.
»Ich habe mich gefragt, wann wir endlich anfangen.«
»Ich bin gleich unten.«
»Super.«
Gott im Himmel.
Ich zog schlaftrunken einen Bademantel über und schlurfte nach unten, wo ich Nora auf dem Wohnzimmersofa zusammengerollt vorfand. Sie trug ein schwarzweiß gestreiftes Marcel-Marceau-T-Shirt und schwarze Leggings. Sie schälte gerade ein hartgekochtes Ei und kritzelte in einem ledergebundenen Buch herum, das, wie mir nach einem verwirrten Augenblick des Wiedererkennens aufging,
mir
gehörte. Ich war in einer Buchbinderei in Neapel darauf gestoßen. Ein achtzigjähriger Italiener namens Liberatore hatte ein ganzes Jahr gebraucht, um es mit seinen arthritischen, zitternden Händen zu fertigen. Es war das letzte seiner Art, denn er war nun tot. Sein Geschäft hatte einer Fiat-Vertretung Platz gemacht. Ich hatte das Buch für den Tag aufbewahrt, an dem ich etwas Profundes und Substantielles darin aufzuschreiben hatte.
»Du schläfst gerne aus, ha?« Sie hörte auf zu schreiben, um mich anzulächeln. Ich sah, dass sie NOTIZEN ZUM FALL ASHLEY CORDOVA oben auf die Seite geschrieben hatte, darunter unlesbare handschriftliche Notizen.
»Es ist noch nicht acht Uhr morgens. Das
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