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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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Beckmans obsoletem Cordova Seminar zu durchforsten. Ihre Konzentration überraschte mich. Sie saß jetzt seit zwölf Stunden in meinem Büro und hörte nur auf zu lesen, um diesen prähistorischen Sittich Septimus mit Aufmerksamkeit zu verwöhnen. Seinen Käfig hatte sie auf das Bücherregal am Fenster gestellt. »Er beobachtet gerne die Leute«, hatte sie gesagt.
    Obwohl sie es nicht konkret gesagt hatte, verstand ich langsam, dass Nora von einer Meute geriatrischer Freigeister großgezogen worden war, an diesem Ort, dessen Namen sie immer wieder fallenließ:
Terra Hermosa
. Sie schien auf unheimliche Weise auf den unmenschlichen Tagesrhythmus und die Fütterzeiten des Altersheims geeicht zu sein. Sie hatte mich um 16 : 45  Uhr gefragt, was ich zu Abend essen würde – die legendäre Abendbrotzeit für Senioren – und verwendete einige vielsagende Ausdrücke aus der McCarthy-Ära:
Ach du meine Güte, Mensch Meier, Immer mit der Ruhe
und
Heiliger Bimbam
.
    »Wie viel Zeit lag zwischen der Fahrt nach Crowthorpe Falls und dem anonymen Anruf?«, fragte Nora, als sie das Transkript zur Seite legte.
    »Zwei Wochen.« Ich saß auf dem Ledersofa und tippte die Einzelheiten unseres Ausflugs nach Briarwood und des Besuchs im Waldorf in meinen Laptop.
    »Das heißt doch, dass du die Wahrheit aufgedeckt hast.«
    »Du meinst Kate Miller und Nelson Garcia?«
    Sie nickte. »Deshalb muss dich John angerufen haben. Cordova hatte wahrscheinlich durch die Überwachungskamera ein genaues Bild von deinem Gesicht, als du zum Torhaus gefahren bist. Und John war eine Falle.«
    »Ich tendiere dazu, das auch so zu sehen, aber eine Bestätigung habe ich nie gefunden.«
    »Vielleicht lag Cordova in dieser Nacht wirklich verletzt im Auto. Und jemand in The Peak war krank, weshalb die medizinischen Geräte angeliefert wurden.«
    »In meinen Notizen habe ich das nicht erwähnt«, sagte ich, stellte meinen Laptop zur Seite und lehnte mich zurück. »Aber ich fand es immer ein bisschen verdächtig, dass Kate Miller Cordova identifizieren konnte. Sechs Monate, nachdem ich mit ihr gesprochen hatte, versuchte sie, die Geschichte an den
Enquirer
zu verkaufen, aber die wollten nichts davon wissen. Es gab keinerlei Beweise für das, was sie sagte, und sie wollten nicht in einen Prozess verwickelt werden. Wenn sogar der
National Enquirer
die Finger von dir lässt, weil ihnen die Sache nicht ganz sauber vorkommt, dann musst du schon richtig Dreck am Stecken haben.« Ich kippte den Rest Scotch hinunter. »Jedenfalls konnte Miller nie so recht erklären, woher sie wusste, wie Cordova aussah. Denn das weiß
niemand
wirklich. Auf den Fotos im
Rolling Stone
ist er nur schemenhaft zu erkennen. Von der berühmten Nahaufnahme von ihm am Set von ›Figuren in Licht getaucht‹ heißt es, das sei ein Double und nicht er.«
    »Vielleicht ist er entstellt, wie das Phantom der Oper«, flüsterte Nora aufgeregt. »Oder Kate Miller hat in dem Auto eine Leiche gesehen.«
    »Wir können nicht einfach ohne jeden Beweis zu dem Schluss kommen, dass wir es mit gemeingefährlichen Irren zu tun haben.«
    Sie schien mich nicht gehört zu haben. »Vielleicht haben die Cordovas irgendwelche mystischen Kräfte. Das hat doch das Zimmermädchen im Waldorf gestern behauptet. Sogar
Morgan Devold
hat es erwähnt – dass Ashley aus irgendeinem Grund wusste, dass er ihr zusah. Er dachte erst, er würde eine Tote sehen. Deinen Notizen nach hat Garcia gesagt, dass niemand über The Peak reden mag.« Sie nahm die Hülle von Ashleys CD in die Hand und starrte das Cover an. »Und dann noch das Stück, das sie aufgenommen hat. Der Titel bedeutet ›Der Teufel der Nacht‹.«
    »Du glaubst nicht, wie viele Leute auf das Übernatürliche zurückgreifen, wenn sich keine andere Erklärung findet«, sagte ich, während ich zum Bücherregal ging und mein Glas füllte. »Die greifen danach, als wäre es eine Flasche Ketchup. Ich dagegen, und somit auch du als meine Angestellte, wir befassen uns nur mit nüchternen, harten Fakten.«
    Obwohl ich ganz sicher nicht an das Übernatürliche glaubte, nagte an mir noch immer die Erinnerung daran, wie mir Ashley in dieser Nacht am Reservoir See erschienen war. Ich hatte Nora nichts davon erzählt. Ich hatte niemandem davon erzählt. Ich war mir selbst nicht mehr sicher, was ich gesehen hatte. Es war, als könne man diese Nacht von allen anderen abtrennen, als eine Nacht ohne Logik, eine Nacht der Phantasie und des Merkwürdigen, die meiner einsamen

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