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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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alle paar Wochenenden das Zimmer mit meiner Tochter und ihrer Stofftiersammlung teilen. Ansonsten gehört es dir.« Ich warf einen Blick über die Schulter. Der Dicke aus dem Laden belauschte uns, seine fette Gestalt verstopfte den Flur.
    »Wie sieht’s mit dem Einstiegsgehalt aus?«, fragte sie durch die Tür.
    »Was?«
    »Der Job. Wie hoch ist das Gehalt?«
    »Dreihundert die Woche. In bar.«
    »
Echt?
«
    »Echt. Aber für die Geldwäsche bist du selbst verantwortlich.«
    »Was ist mit Gesundheitsleistungen?«
    »Gibt’s nicht. Nimm Echinacea.«
    »Ich werde nicht mit dir schlafen oder so was.«
    Es klang, als meldete sie eine Nahrungsmittelallergie an.
Ich darf keine Schalentiere und keine Erdnüsse essen.
    »Kein Problem.«
    »Alles in Ordnung hier hinten?« Der Typ aus dem Laden war den Flur entlanggewatschelt und stand hinter mir.
    Plötzlich öffnete sich die Tür, und da war Nora. Sie trug noch immer ihr Eiskunstlaufkostüm, aber ihr langes Haar hing ihr jetzt über die Schultern. Ihr Gesicht war ernst.
    »Ja, Martin«, sagte sie. »Ich hau ab.«
    »Mit einem
Cop

    »Er ist kein Cop. Er ist investigativer Journalist. Selbständig.«
    Das
schien den Kerl
wirklich
zu beunruhigen – ich nahm’s ihm nicht übel. Nora lächelte mich an, mit einem Mal schüchtern, und wandte sich wieder ihrer Kammer zu. Die Tür ließ sie offen stehen.
    Es war ein großer, begehbarer Schrank, mit einer nackten Glühbirne an der Decke. In einer Ecke waren ein Bettlaken und eine Armeedecke ausgebreitet. Unten an der Wand lagen eine Packung Hotdog-Brötchen, ein Stapel gefalteter T-Shirts, eine Tüte Vogelfutter, Messer und Gabeln aus Plastik und ganze Ameisenhaufen winziger Pfeffer- und Salztütchen – wahrscheinlich bei McDonald’s eingesteckt. Neben dem Vogelkäfig – der leer zu sein schien – lag ein blaues Jahrbuch, auf dem stand
Harmony High School, die Heimstätte der Longhorns
. Über dem provisorischen Bett klebten zwei kleine Farbfotos an der Wand – nahe der Stelle, wo ihr Kopf gelegen hatte. Das eine zeigte einen bärtigen Mann, das andere eine Frau.
    Das mussten ihre verstorbene Mutter und ihr Verbrecher-Vater sein.
    Ich ging einen Schritt in den Raum hinein, um sie mir genauer anzusehen, und merkte, dass es sich bei dem Mann tatsächlich um Christus handelte, so wie Er in der Sonntagsschule gezeigt wurde: milchige Haut, frisch gestärkter blauer Morgenmantel und ein Bart, der so penibel gestutzt war wie ein Bonsai. Er tat, was er immer tat: Er umschloss mit den Händen ein grelles Licht, als versuchte er, sich nach einem langen Tag auf der Skipiste die Hände aufzuwärmen. Die Frau, die neben ihm hing, war Judy Garland in »Der Zauberer von Oz«. Die beiden gaben ein schönes Pärchen ab.
    Nora schob einen Stapel Hemden in ihre Plastiktüte. »Wenn ich den Job annehme, darfst du mir keine Fragen stellen.
Ich
geh dich nichts an.« Sie hob eine mit goldenen Pailletten besetzte Hot Pants auf, die zusammengeknüllt in einer Ecke lag, und stopfte sie in die Tüte. »Ich mache das nur, bis wir die Sache mit Ashley geklärt haben. Danach mach ich mein eigenes Ding.«
    »Gut.« Ich ging in die Hocke, um mir den Vogelkäfig anzusehen. Darin saß ein blauer Wellensittich, doch das Ding war so reglos und verblasst, dass es wie ausgestopft wirkte. Mengen von Spielzeug lagen auf dem Zeitungspapier vor ihm – bunte Bälle, Federn und Glocken, ein Ganzkörperspiegel –, doch der Vogel schien zu erschöpft zu sein, um sich dafür zu interessieren.
    »Wer ist das hier?«, fragte ich.
    »Septimus«, sagte sie. »Er ist ein Erbstück.« Sie hockte sich lächelnd neben mich, die Tränen waren vergessen. »Er wurde schon so oft vererbt, dass sich keiner erinnern kann, wo er herkommt. Oma Eli hat ihn von ihrer Nachbarin Janine bekommen, als sie starb. Und Janine hatte ihn von Glen vermacht bekommen, als er starb. Und Glen hatte ihn von einem Mann namens Caesar, der an Diabetes gestorben ist. Wem er vor Caesar gehört hat, weiß keiner.«
    »Das ist kein Vogel, das ist ein böses Omen.«
    »Manche Leute glauben, er hat magische Kräfte und ist hundert Jahre alt. Willst du ihn mal halten?«
    »
Nein

    Doch sie öffnete bereits die Tür. Der Vogel hüpfte herbei und warf sich in ihre Hand. Sie nahm meine und legte den Vogel hinein.
    Er hatte nicht mehr lange zu leben. Es sah aus, als leide er unter Altersstar. Außerdem zitterte er schwach, wie eine elektrische Zahnbürste. Ich hätte ihn für katatonisch gehalten, wenn

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