Die amerikanische Nacht
um es ihr zu zeigen. Ich versuchte mich einzuloggen, aber wurde wieder nur zur WILLKOMMEN BEI DEN BLACKBOARDS -Seite zurückgeworfen.
»Du machst das falsch«, sagte Nora. »Du versuchst es als ›Sire of Fogwatt‹. Wir sollten irgendwas ausprobieren, das mit Cordova zu tun hat.«
Nora trennte meinen WLAN -Router von der Telefonleitung und sagte, dass mir das eine neue IP -Adresse verschaffen würde, die von der Website nicht erkannt und gesperrt werden kann. Als sie den Router nach fünf Minuten wieder einstöpselte, schaffte sie es bis zur EINSTIEG -Seite. Dort gab sie die Anmeldedaten neu ein.
»Lass uns als Benutzernamen ›Gaetana Stevens 2991 ‹ ausprobieren.«
Gaetana Stevens war der Name der Figur, die Ashley Cordova in »Atmen mit den Königen« ( 1996 ) gespielt hatte, Cordovas letztem Film, einem der
Black Tapes
.
Das überraschte mich. Nur wenige Menschen hatten den Film überhaupt gesehen. Ich selbst hatte ihn nur bei Beckman zu Hause gesehen, vor fünf Jahren. Er hatte eine Raubkopie, die er mir nicht ausleihen wollte, weil die DVD mit einem unüberwindbaren Schutz versehen war, der das Kopieren oder Online-Stellen unmöglich machte – und Beckman hatte den – vermutlich zutreffenden – Verdacht, dass ich sie ihm nie wiedergeben würde.
Den Film auch nur einmal zu sehen bedeutete, sich in so vielen expliziten Szenen von kaum zu ertragender Spannung zu verlieren, dass ich mich erinnern konnte, anschließend leicht erstaunt gewesen zu sein, wieder in die echte Welt zurückzukehren. Etwas an der Dunkelheit dieses Films ließ mich daran zweifeln, dass ich zurückkehren würde – als würde man sich, wenn man Zeuge solcher Dinge wurde, unwiderruflich daran gewöhnen (oder daran zerbrechen) und im tiefsten Inneren der Seele ein so dunkles Verständnis der Menschheit entwickeln, dass man nie wieder zu dem vorherigen Zustand zurück konnte. Diese Angst ließ natürlich nach, als das normale Leben wieder in den Vordergrund trat. Und auch jetzt war diese schreckliche Geschichte in meiner Erinnerung nicht viel mehr als eine Ansammlung schlecht ausgeleuchteter, schauriger Bilder, durchbrochen von der Präsenz Ashley Cordovas, die ich als schönes Kind mit grauen Augen erinnerte, die ihr Haar als Pferdeschwanz mit roter Schleife trug.
Sie bleibt den ganzen Film über stumm, läuft in den Aufenthaltsraum hinein und wieder hinaus, versteckt sich unter Treppen und in Dienstmädchenkammern, späht durch Schlüssellöcher und schmiedeeiserne Tore und rast mit dem Fahrrad über die Wiese, wobei sie schreckliche Schnittwunden im Gras hinterlässt.
Die Handlung des Films war geradlinig – wie die der meisten von Cordovas Filmen, die das Handlungsmuster einer Odyssee oder einer Jagd verwendeten. Es war eine Adaption eines unbekannten niederländischen Romans,
Ademen met Koningen
von August Hauer. Die so reiche wie korrupte Familie Stevens – ein prächtiger Clan zügelloser Caligulas, die in einem namenlosen europäischen Land leben – wird einer nach dem anderen kaltblütig abgeschlachtet. Die Polizei ist ratlos. Obwohl der ermittelnde Kommissar schließlich einen Landstreicher festnimmt, der für die Familie als Landschaftsgärtner tätig war, deckt der Film in seiner allerletzten Wendung auf, dass das jüngste Kind der Familie der eigentliche Mörder war, die stumme, wachsame achtjährige Gaetana – natürlich gespielt von Ashley. Als der Kommissar hinter diese entsetzliche Wahrheit kommt, ist es bereits zu spät. Das kleine Mädchen ist verschwunden. In der letzten Szene sieht man sie eine Straße entlangspazieren, wo sie von einer Familie auf Reisen in ihrem Kombi mitgenommen wird. Wie für Cordova typisch, bleibt unklar, ob diese Familie dasselbe schreckliche Schicksal erwartet wie ihre eigene, oder ob sie sich nur deshalb zum Waisen gemacht hat, um bei einer glücklicheren Familie aufwachsen zu können.
»Wie hast du es geschafft, ›Atmen mit den Königen‹ zu sehen?«, fragte ich Nora.
Sie hatte die Blackboards-Anmeldung abgeschlossen und auf
Ich bin bereit
geklickt. Jetzt warteten wir, ob die Seite wirklich geladen wurde.
»Moe Gulazar«, sagte sie.
»Wer ist Moe Gulazar?«
»Mein bester Freund.« Sie blies sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Er war ein alter Pferdetrainer, der am Ende des Flurs wohnte. Er liebte alles, was mit Cordova zu tun hatte. Hatte auch Verbindungen zum Schwarzmarkt. Einmal hat er alle seine Reittrophäen gegen ein Box-Set der
Black Tapes
eingetauscht. Er
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