Die amerikanische Nacht
insgesamt einem auferlegen.
Wenn du das Lamm geschlachtet hast, bist du zu allem fähig, und die Welt gehört dir
, verkündete die Seite.
Souverän. Tödlich. Perfekt.
Diese drei Worte, die Cordova in seinem berühmten
Rolling-Stone
-Interview erwähnte, als er seine Lieblingseinstellung aus allen seinen Filmen beschrieb – eine Nahaufnahme seines eigenen Auges –, war das Motto der Blackboards und für das Leben im Allgemeinen.
Souverän
: die Unantastbarkeit des Individuums, sich selbst als Fürst betrachten, als machtvoll, unabhängig, die Autorität von der Gesellschaft für sich selbst erkämpfend.
Tödlich
: das ständige Bewusstsein, dass der eigene Tod unausweichlich ist, was bedeutet, dass es keinen Grund gibt, das Leben nicht krass anzugehen.
Perfekt
: die Auffassung, dass das Leben und die Situation, in der man gerade ist, absolut ideal sind. Keine Reue, keine Schuld, denn selbst, wenn man irgendwo feststeckt, ist das bloß ein Kokon, aus dem man ausbrechen kann –
um sein Leben freizulassen
.
Ich wusste bereits, dass Cordovas Fans ihn für einen amoralischen Zauberer hielten, einen dunklen Messdiener, der sie von dem wegführte, was an ihrem Leben schal und lästig war, und in die feuchte, untertunnelte Schattenseite der Welt hinein, wo jede Stunde etwas Unerwartetes passierte. Das Geraune und die Vermutungen der Blackboards zu durchkämmen, allein die Masse an anonymen Kommentaren – deren Bandbreite von ehrfurchtsvoll über eingeschüchtert bis in höchstem Maße verdorben und krank reichte –, bestätigte nur meinen Verdacht, dass Cordova nicht nur ein komischer Exzentriker war, wie Lewis Carroll oder Howard Hughes, sondern ein Mann, der in vielen Menschen Ergebenheit und Ehrfurcht auslöste, ähnlich wie der Anführer einer religiösen Sekte.
Um 03 : 45 Uhr saßen Nora und ich – mit leeren Augen und wie im Delirium – in meinem Wohnzimmer. Ich kramte meine Raubkopie von »Warte hier auf mich« heraus – die ich Beckman für fünfundsiebzig Dollar abgekauft hatte –, und wir sahen uns die schreckliche Eröffnungsszene an, in der
Jenny Decanter
, gespielt von der zweiundzwanzigjährigen Sharon Polk, mitten in der Nacht allein einen Waldweg entlangfuhr.
Plötzlich kam Theo Cordova – in der Rolle des ersten
John Doe
– aus dem Wald gestürzt. Jenny schrie auf, stieg auf die Bremse und schleuderte mit ihrem Auto in den Straßengraben. Der Motor soff ab.
Ich fand immer schon, dass Theo Cordova wie ein verstörter Puck aussah: nervös, halbnackt, glasige Augen und die nackte Brust voller Blut und Spuren, die nach Menschenbissen aussahen. Jetzt, nachdem wir Crowboy 123 s Anekdote auf den Blackboards gelesen hatten, wirkte er
noch
entsetzlicher. Als er ans Autofenster klopfte, die Tür zu öffnen versuchte und seinen einzigen Satz sagte – »Bitte helfen Sie mir«, kaum hörbar über Jennys Schreien –, lief seine Stimme wie ein seltsamer Saft aus ihm heraus.
Nora stand neben dem Flachbildfernseher und drückte auf Pause.
Bild für Bild näherte sie sich Minute 05 : 48 . Dort, hatte Crowboy 123 behauptet, war zu sehen, dass Theo drei Finger fehlten.
»Da.«
Sie zeigte auf Theos linke Hand, die durch das Autofenster zu sehen war.
Es war unscharf, aber es sah blutig aus. Und an der Stelle, wo sein Daumen, sein Zeige- und sein Mittelfinger sein sollten, waren nur Hautfetzen und durchtrennte Knochen zu erkennen.
»Schwer zu sagen, was das ist«, sagte ich.
»
Was
? Er hat eindeutig keine Finger.«
»Das ist ein Film. Es könnte ein Spezialeffekt sein, Make-Up, Prothesen …«
»Aber sein Gesichtsausdruck ist echt. Das
weiß
ich.«
Sie drückte auf Play, und Theos Hand fiel aus dem Bild.
Jenny gelang es, ihr Auto wieder zu starten und rückwärts auf die Straße zu rasen, wobei sie den nervösen und verletzten Jungen beinahe überfuhr. Äste zerschlugen die Scheibe, die Reifen quietschten. Als sie wie blind und vor Schreck versteinert davonraste und ihre Tränen wegblinzelte, sah sie ihn im Rückspiegel.
Die halbnackte Gestalt des Jungen leuchtete im Licht der Heckleuchten rot auf, verblasste aber schnell zu einem dünnen schwarzen Schemen, und dann sprang er – schnell wie ein Insekt – von der Straße weg und war nicht mehr zu sehen.
Nora krabbelte zurück zum Sofa, zog sich die Wolldecke über die Beine und nahm Septimus vom Couchtisch auf, als könnte der uralte Vogel sie vor dem Schrecken bewahren, der sich gleich auf dem Bildschirm entfalten
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