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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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dran. Ich hatte es vergessen.
    Meine Ex-Frau zu sehen war immer noch ein körperlicher Schock für mich.
Jeannie
war als Vermittlerin für Sam vorgesehen. Dass Cynthia in meiner Wohnung auftauchte, war, wie in der Wildnis vor dem eigenen Zelt einem Grizzly zu begegnen: eine lebensbedrohliche Konfrontation, die ich zwar in Betracht gezogen hatte, jedoch nur als Worst-Case-Szenario.
    Sie sah wie immer toll aus, in einem cremefarbenen Wollmantel und Jeans, ihr aschblondes Haar trug sie in einer Föhnwelle. Sie arbeitete als Händlerin einer exklusiven Galerie für zeitgenössische Kunst in der Madison Avenue und musterte seltsam gekleidete Fremde oft, als wären sie Airbrush-Elvis-Porträts für 99  Cent.
    »Hallo, Schatz«, sagte ich zu Sam. »Mrs Quincy. Was verschafft mir die Ehre?«
    Sie wandte sich mir zu. »Hast du meine Nachrichten nicht bekommen? Jeannie liegt im Krankenhaus. Sie hat Pfeiffersches Drüsenfieber und kehrt nach Virginia zurück, bis es ihr wieder bessergeht. Das wird mindestens sechs Wochen dauern.«
    Ich sah zu Sam hinunter, die den Griff ihres Toy-Story-Reisekoffers fest umklammert hielt und Nora mit großen Augen und offenem Mund anstarrte.
    »Süße, hast du schon meine neue Mitarbeiterin kennengelernt?«
    Sie antwortete nicht. Sie neigte dazu, vor lauter Scheu sprachlos zu werden, wenn sie jemand Fremdes traf. Sie trat schüchtern einen Schritt hinter meine Ex-Frau zurück.
    »Kann ich kurz unter vier Augen mit dir sprechen?«, fragte mich Cynthia mit einem dünnen Lächeln.
    »Sicher.«
    »Sam, du bleibst hier. Ich bin gleich wieder da.«
    Sie ging vor, den Flur entlang. Wir betraten mein Büro und sie schloss die Tür hinter mir.
    »Wer ist
das
?«, fragte sie.
    »Nora. Sie hilft mir bei einer Geschichte.«
    »Wie
alt
ist sie? Sechzehn?«
    »Neunzehn. Und extrem reif für ihr Alter.« Ich hätte mir nur zu gern vorgestellt, dass Cynthia eifersüchtig war, mich mit einer anderen Frau zu sehen, doch diese Fragen hatten nichts mit mir zu tun. Sie machte sich Sorgen um Sam.
    Sie sah sich um und runzelte beim Anblick der Papiere und Notizen, die auf dem Boden verstreut lagen, die Stirn. Bestimmt dachte sie,
manche Dinge ändern sich nie.
    Sie war immer noch schön. Es war schrecklich. Ich hatte darauf gewartet, dass Cynthia, wenn sie sich tiefer in die Vierziger vorgewagt hatte, eines Tages mit Falten aufwachen würde, wie ein Gewirr von Maulwurfhügeln, das einen legendären Rasen versaute. Aber nein, ihre grünen Augen, diese Wangenknochen, der ausdrucksstarke kleine Mund, der jede ihrer Launen mit der Sorgfalt eines UNO -Dolmetschers überbrachte, all das war immer noch jugendlich und strahlend. Jetzt wachte Bruce jeden Morgen neben diesem Gesicht auf. Ich konnte immer noch nicht glauben, dass
dieser
Mann – achtundfünzig, Speckbauch, haarige Handgelenke, mit einer Yacht auf den Bahamas namens HERRSCHAFT II  – jeden Tag mit solcher Schönheit verbringen durfte. Zugegeben, er hatte ein Händchen dafür, am Markt gute Deals zu erkennen. Als ihm Cynthia ein Gemälde von Damien Hirst mit dem vielsagenden Titel »Beautiful Bleeding Wound Over the Materialism of Money« verkaufte, bemerkte Bruce, dass auch sie ein Kunstwerk war, das man ein Leben lang anschauen mochte. Aber dass sie es zuließ, dass man sie im Paket mit dem Gemälde kaufte – damit hatte ich nicht gerechnet.
    Als ich Cynthia in unserem zweiten Studienjahr an der University of Michigan kennenlernte, war sie flatterhaft und mittellos. Sie studierte Französisch im Hauptfach und zitierte Simone de Beauvoir. Wenn es kalt war, wischte sie die laufende Nase am Ärmel ihrer Jacke ab und steckte den Kopf aus dem Auto, so dass der Wind ihr Haar explodieren ließ. Diese Frau gab es nicht mehr. Das war nicht ihre Schuld. Genau das machte ein großes Vermögen mit den Menschen. Es brachte sie in die Reinigung, stärkte sie brutal und drehte sie durch die Mangel, bis alle Ecken und Kanten, der Dreck und der Hunger und das unbefangene Lachen weggebügelt waren. Nur wenige überlebten das große Geld.
    »Du und das Mädchen, ihr arbeitet also nur zusammen«, sagte Cynthia und wandte sich wieder mir zu.
    »Ja. Sie unterstützt mich bei der Recherche.«
    »Naja, dich bei der Recherche zu unterstützen kann ja Verschiedenes bedeuten.«
    Das hatte gesessen. Es stimmte, nach unserer Scheidung war ich eine unbedeutende Beziehung mit meiner letzten Recherchemitarbeiterin eingegangen, Aurelia Feinstein, vierunddreißig Jahre alt. Das klingt

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