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Die amerikanische Nacht

Die amerikanische Nacht

Titel: Die amerikanische Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marisha Pessl
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hatte von einem unserer Inhaber, Gabor, gehört, dass sie vor vielen Jahren, als Teenager, hierherkam und spielte. Aber diese Verbindung habe ich nicht hergestellt.« Er hielt inne, sein Gesicht sah nachdenklich aus. »Als sie fertig war, fragte sie mich höflich, ob sie die gesamte Suite spielen dürfe, von ›Assez Lent‹ bis zum ›Epilogue‹. Sie zu spielen dauert gut fünfzehn Minuten. Natürlich sagte ich ja.« Er lächelte. »Selbst wenn sie mich gebeten hätte, alle Sonaten von Beethoven zu spielen, hätte ich es erlaubt. Als sie fertig gespielt hatte, hob sie den Kopf und blickte mich an. Ihr Blick war ausgesprochen stechend.«
    »Hat sie etwas gesagt?«
    »Sie dankte mir. Sie sprach leise. Heiser. Sie bewegte sich fast wie ein Schwan. Eine makellose Oberfläche. Was darunter passiert, weiß man nicht. Einen Augenblick lang saß sie da, ohne etwas zu sagen. Ich merkte, dass es ihr schwerfiel zu sprechen. Ich fragte mich, ob Englisch vielleicht nicht ihre Muttersprache war. Sie nahm ihre Tasche und dann …« Sein Blick löste sich vom Flügel, als stellte er sich gerade vor, wie Ashley zur Tür ging. »Ich
versuchte
, sie zum Bleiben zu bewegen, doch als ich sie nach ihrem Namen fragte, sagte sie, ›Niemand‹. Und dann ging sie.«
    »Wie war ihr Verhalten?«
    »Verhalten?«
    »Wirkte sie deprimiert? Psychisch krank?«
    »Außer, dass sie zögerlich sprach? Nein.
Diesmal
nicht.
Diesmal
wirkte sie recht zufrieden, als sie fertig war. So, wie man sich nach dem Schwimmen im Pazifik fühlen dürfte. Musiker haben dieses Gefühl nach einer guten Probe.« Er räusperte sich und starrte aus dem Schaufenster auf die leere Straße. »Ich habe ihr zugesehen, wie sie langsam über den Gehsteig ging, als wüsste sie nicht genau, wohin sie wollte. Als ich am Abend zu Hause war, daran kann ich mich sehr deutlich erinnern, konnte ich nicht schlafen, die ganze Nacht nicht. Aber ich spürte eine große Ruhe in mir. Ich hatte zuletzt einige persönliche Probleme, deren Details ich Ihnen ersparen möchte. Doch ihr plötzliches Erscheinen war ein Geschenk für mich. Das lag zum Teil daran, dass nur ich sie gesehen hatte. Sie hätte sehr gut eine Ausgeburt meiner Phantasie sein können. Eine von Debussys
Demoiselles
. Ich glaubte nicht, sie je wieder zu sehen.«
    »Wann ist sie wiedergekommen?«, fragte ich.
    Die Frage schien ihn traurig zu stimmen. »Drei Tage später.«
    »Das wäre der 7 . Oktober«, sagte ich und notierte es in meinem BlackBerry. »Erinnern Sie sich an die Tageszeit?«
    »Eine Stunde nach Ladenschluss. Sieben Uhr? Wieder war ich der Letzte, der noch hier war. Sogar unser Praktikant war schon gegangen.« Er drehte sich um und deutete auf eine große, alte, in Leder gebundene Kladde, die offen auf einem Tisch an der Rückwand lag. »Wir bitten jeden, der ins
Klavierhaus
kommt, sich in unser Gästebuch einzutragen. Es heißt, wenn sich ein Musiker in das
Klavierhaus
-Gästebuch eingetragen hat, hilft das bei zukünftigen Aufführungen, und es verbessert die Technik. Eine Art Taufe, wenn man so will. Alle großen Namen haben schon unterschrieben. Zimerman. Brendel. Lang Lang. Horowitz.«
    Als ihm klarwurde, dass uns diese Namen wenig sagten, seufzte er entmutigt und deutete über die Schulter zum Verwaltungsalkoven.
    »Ich tippte gerade die Adressen und Namen ab, als jemand gegen das Schaufenster klopfte. Eigentlich hatten wir geschlossen. Doch als ich sah, wer es war, ließ ich sie natürlich herein. Als ich jedoch die Tür öffnete, merkte ich, dass etwas überhaupt nicht stimmte.«
    »Was?«, fragte Hopper.
    Peter schien es unangenehm zu sein, davon zu sprechen. »Ich glaube nicht, dass sie geduscht hatte – oder auch nur diesen Mantel ausgezogen –, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Ihr Haar war zerzaust. Sie stank nach Schmutz und Schweiß. Sie wirkte bedröhnt. Mir kam der Gedanke, dass sie obdachlos sein musste. Es sind schon einige Landstreicher in unser Geschäft gekommen. Sie kommen hier vorbei, wenn sie auf den Stufen von Saint Thomas in der Fifth übernachten. Die Musik zieht sie an.« Er seufzte. »Sie fragte, ob sie spielen dürfe. Ich sagte ja. Und dann setzte sie sich genau dorthin.« Er zeigte auf denselben glänzenden Fazioli Flügel und starrte auf den leeren braunen Lederhocker hinab. »Sie strich mit den Händen über die Tasten und sagte ›Ich denke, heute Debussy. Er ist nicht so sauer auf mich.‹ Etwas in diesem Sinne. Und dann hat sie …«
    »Augenblick mal«,

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