Die amerikanische Nacht
Beschreibung nach, glaube ich ja, sie war im
Klavierhaus
.«
Er war einer dieser Menschen, bei denen man zunächst dachte, sie hätten einen ausländischen Akzent. Doch er stellte sich als Amerikaner heraus, der sich bloß
behutsam
ausdrückte, als müsse er jedes Wort erst vorsichtig abstauben und gegen das Licht halten.
»War die Polizei hier, um nach ihr zu fragen?«
»Nein, nein. Die Polizei war nicht hier. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war, bis Mr Cole heute Nachmittag kam. Er beschrieb sie mir, und ich erkannte sie sofort wieder.« Peter warf Hopper einen Blick zu. »Das dunkle Haar. Der rote Mantel mit den schwarzen Verzierungen an den Ärmeln. Diese Schönheit.«
»Wann genau war sie hier?«, fragte ich.
»Brauchen Sie das genaue Datum?«
»Das würde uns helfen.«
Peter eilte in einen Alkoven auf der anderen Seite des Ladens, der für Organisatorisches vorgesehen war. Nach kurzem Suchen holte er unter der Theke einen großen, ledergebundenen Kalender hervor, der mit Zetteln vollgestopft war.
»Ich bin mir nahezu sicher, dass es ein
Dienstag
war, weil wir gerade unseren wöchentlichen Konzertsalon gehabt hatten«, murmelte er und schlug den Kalender auf. »In der Regel ist es um halb elf vorbei. An diesem Abend jedoch war ich gegen elf im hinteren Teil des Ladens und räumte auf, als ich plötzlich eine ganz aufregende Interpretation von Ravels ›Valses nobles et sentimentales‹ hörte. Das kennen Sie bestimmt.«
Wir schüttelten die Köpfe, was ihn zu beunruhigen schien.
»
Gut.
Ich hatte vergessen, die Tür abzuschließen.« Er studierte den Kalender, runzelte die Stirn und hielt sich nachdenklich einen Finger an die Lippe. »Es war der 4 . Oktober. Ja. Das muss es sein.«
Lächelnd schob er den Kalender über den Tisch, damit wir hineinsehen konnten, und tippte mit dem Zeigefinger auf den entsprechenden Tag.
»Ich eilte in den Ausstellungsraum und sah sie am Flügel.«
»Welcher war das und wo?«, fragte ich.
Er zeigte zum Eingangsbereich. »Der Fazioli. Dort im Fenster.«
Ich schlenderte hin, gefolgt von Nora.
»Ist das ein Guter?«, fragte ich.
Peter gluckste, als hätte ich einen Witz gemacht. »Faziolis sind die Besten der Welt. Viele Fachleute halten sie für besser als Steinways.«
Ich sah mir den Flügel an. Selbst für einen Laien wie mich war es ein wunderschönes, einschüchterndes Instrument.
»Pianos sind wie Menschen«, bemerkte Peter leise. »Jedes hat eine eigene Persönlichkeit. Es braucht Zeit, sie kennenzulernen. Und sie können einsam sein.«
»Was für eine Persönlichkeit hat dieses hier?«, fragte Nora.
»Dies? Oh. Das ist eine kleine Diva. In der Highschool wäre es Ballkönigin. Es kann launisch sein, und fordernd. Wenn man nicht aufpasst, übernimmt es die Kontrolle. Doch unter einer starken Hand kann es überwältigend sein. Bei allen Klavieren und Flügeln besteht der Resonanzboden aus Fichte. Nun,
Fazioli
verwendet Fichte aus den
Val di Fiemme
-Wäldern in Norditalien.«
Er erwartete erstaunte Reaktionen, doch wir konnten ihn nur verständnislos anstarren.
»Das ist dasselbe Holz, aus dem die Familie Stradivari im 17 . Jahrhundert ihre legendären Violinen fertigte. Es sorgt für einen opulenten, samtigen Klang, den heute kein Hersteller mehr replizieren kann. Das ist der Grund, warum Violinen von Stradivari heutzutage für Millionen gehandelt werden.«
»Was haben Sie getan, als sie sie hörten?«, fragte ich.
»Ich wollte ihr sagen, dass sie am nächsten Tag wiederkommen sollte. Wir hatten schließlich schon geschlossen. Doch ihr Spiel war …« Er schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »…
elektrisierend
. Ich wusste, dass sie von einem Europäer ausgebildet worden war, wegen ihrer rücksichtslosen, stürmischen Artikulation, die perfekt ausbalanciert war mit profunder Innerlichkeit und Intimität, was wiederum an einige der größten Pianisten aller Zeiten erinnerte. Argerich. Pascal Rogé. Ich brachte es nicht fertig, sie zu unterbrechen. Das Genie hält sich nicht an die Öffnungszeiten,
n’est pas
? Ich sprach sie nicht an, bis sie fertig gespielt hatte.«
»Wie lange dauerte das?«, fragte ich.
»Etwa anderthalb Minuten. Sie kam mir so bekannt vor, auf entfernte Weise. Wie eine Melodie aus der Kindheit, die einem plötzlich wieder einfällt, ohne dass man sich an den Text oder irgendetwas außer einer Handvoll geheimnisvoller Noten erinnert.« Er seufzte. »
Jetzt
weiß ich, dass es Ash DeRouin war. Erwachsen geworden. Ich
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