Die amerikanische Nacht
Rande des Ozeans steht –, stellt sich heraus, dass wenige Augenblicke vor ihrem Eintreffen ein schreckliches Verbrechen stattgefunden hat, und die Täter – maskiert und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet – sind noch immer da.
Ich hatte den Namen wiedererkannt, weil nicht nur die Blackboards voll von Theorien über diese schwer zu fassende
Kay Glass
waren – sogar Schreine hatte man ihr dort errichtet –, sondern ich auch einmal eine ausführliche Vorlesung von Beckman zu diesem Namen und seiner Bedeutung gehört hatte. Er behauptete, dass
Kay Glass
für das
Chaos
stehe. Beckman argumentierte außerdem, dass die verschwundene Frau – und die Frage, was mit ihr geschehen war –, eigentlich eine Metapher für die unausweichliche Dunkelheit des Lebens sei. Die Figur war ein Markenzeichen Cordovas, und Beckman hatte eine seiner Katzen nach ihr benannt: Schatten.
»Kay Glass ist der Schatten, der uns unerbittlich verfolgt«, sagte Beckman. »Wir jagen ihm nach, aber erreichen ihn nie. Es ist das Mysterium unseres Lebens, die Erkenntnis, dass, auch wenn wir all das haben, was wir wollen, es uns eines Tages verlassen wird. Es ist dieses gewisse Nichtgesehene, die lauernde Zerstörung, die Dunkelheit, die unserem Leben eine Dimension verleiht.«
Die Tatsache, dass Ashley aus allen denkbaren Pseudonymen
dieses
ausgewählt hatte – eine verschwundene Frau aus einem Film ihres Vaters – ließ allerhand psychologische Schlüsse zu. Der offensichtlichste war, dass die Geschichten ihres Vaters ein Teil ihrer alltäglichen Realität waren, dass sie vielleicht sogar ihr Selbstbild überschatteten. Was war noch ihre Antwort, als Peter Schmid sie fragte, wer sie war?
Niemand.
Das erinnerte mich an ihr Porträt im
Amherst
Magazin.
Es ist wunderbar, sich in der Musik zu verlieren
, hatte sie gesagt.
Da vergisst man für eine Weile seinen Namen.
Unser Taxi rollte die leere Straße entlang. Vor uns verlief quer die Manhattan Bridge, wie ein gewaltiger umgestürzter Baum, den niemand weggeschafft hatte. Schäbige Mietskasernen waren daran entlang aus dem Boden geschossen.
»Da«, sagte Hopper und zeigte auf ein Gebäude auf der rechten Seite.
Auf der Markise stand in weißen Buchstaben
83 Henry Street
, gefolgt von chinesischen Schriftzeichen. Eisengitter waren links und rechts vom Eingang heruntergezogen – einer grünen Tür mit einem kleinen, rechteckigen Fenster.
Ich bezahlte das Taxi und wir stiegen aus.
Es war seltsam ruhig und still, das einzige Geräusch war das Raunen unsichtbarer Autos, die über die Brücke fuhren. Ich trat zur Tür und sah durch das Fenster.
Innen erstreckte sich hinter einer Reihe Postkästen ein heruntergekommener und mit Graffiti besprühter Hausflur.
»Guckt mal«, flüsterte Nora und zeigte auf das Schild neben der Klingel mit der Nr. 16 . Darauf stand
K. Glass
.
»Nicht drücken«, sagte ich. Ich trat zurück zum Bordstein und sah mir das Gebäude an: fünf Stockwerke, abbröckelnder roter Backstein, eine rostige Feuertreppe. Alle Fenster waren dunkel, bis auf zwei im ersten Stock und eines mit rosa Rüschenvorhängen im vierten.
»Da kommt jemand«, flüsterte Hopper. Er ging von der Tür weg und sprang um die Hausecke, wo ein Parkplatz war. Nora taumelte nach hinten und lief dann auf dem Gehsteig davon. Ich ging an den Müllsäcken vorbei, die am Bordstein gestapelt lagen, und überquerte die Straße.
Sekunden später hörte ich, wie hinter mir die Tür geöffnet wurde, dann schnelle Schritte.
Ein asiatischer Mann in einer blauen Jacke war herausgekommen und ging in Richtung Pike Street. Er schien uns nicht gesehen zu haben – nicht einmal Hopper, der an ihm vorbeigehuscht war und die Tür aufgefangen hatte, bevor sie ins Schloss fiel.
»Gut«,
flüsterte Nora aufgeregt und hastete hinter ihm ins Haus. »Die 16 muss im obersten Stock sein.«
»Wartet mal«, sagte ich, als ich hinter ihnen herkam.
Doch Hopper rannte schon den Flur entlang und war nicht mehr zu sehen, dicht gefolgt von Nora. Ich blieb zurück und untersuchte die Postkästen. Außer Glass in Nr. 16 gab es nur noch Dawkins in Nr. 1 und Vine in Nr. 13 .
Ich ging leise den Flur entlang. Ganz nah konnte ich das Brabbeln eines Fernsehers hören. Von oben kam das Scheppern von Hopper und Nora. Ein helles Licht irgendwo im Treppenhaus warf plötzlich ihre dunklen, länglichen Schatten gegen die Wand vor mir – zwei lange schwarze Zungen, die die Wand herunterrutschten, die gebrochenen
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