Die amerikanische Nacht
unterbrach ich ihn. »Sie sprach über den Komponisten, als wäre er ein
Bekannter
von ihr?«
»Natürlich«, erwiderte Peter mit einem vergnügten Nicken.
»Ist das nicht ein wenig seltsam?«
»Überhaupt nicht. Konzertpianisten sind oft gut mit toten Komponisten befreundet. Sie können nichts dafür. Klassische Musik ist nicht einfach
Musik
. Es ist ein persönliches Tagebuch. Ein unzensiertes Geständnis in tiefster Nacht. Ein Ausdruck der Seele. Nehmen Sie als modernes Beispiel Florence and the Machine. In dem Lied ›Cosmic Love‹ listet sie auf, inwiefern die Welt ein dunkler Ort wurde und ihr die Orientierung abhandenkam, als sie, eine recht intensive junge Frau, von ihrem Geliebten verlassen wird. ›Die Sterne, der Mond, sie alle sind ausgelöscht.‹
Nun ja.
Bei Beethoven und Ravel ist es nichts anderes. Diese Komponisten haben ihr ganzes, wildes Wesen in ihre Musik einfließen lassen. Wenn ein Pianist ein Stück lernt, lernt er oder sie den toten Mann aufs Beste kennen – inklusive aller Freuden und Schwierigkeiten, die eine solche intensive Beziehung mit sich bringt. Man lernt Mozarts Tricksereien kennen und seine ADS -Aufmerksamkeitsspanne. Bachs Sehnsucht nach Anerkennung und seine Intoleranz gegenüber Abkürzungen. Liszts aufbrausendes Temperament. Chopins Unsicherheit. Und wenn man dann versucht, ihre Musik im Konzert lebendig werden zu lassen, auf der Bühne, vor Tausenden, dann braucht man diesen toten Mann an seiner Seite. Denn man erweckt ihn wieder zum Leben. Es ist ein wenig wie bei Frankenstein, der sein Monster wiederbelebt, verstehen Sie? Es kann ein erstaunliches Wunder sein. Oder ganz schrecklich danebengehen.«
Ich sah zu Hopper hinüber. Er starrte Peter noch immer an, sein Gesichtsausdruck zwischen Konzentration und leiser Skepsis. Nora war wie gebannt.
»Was ist dann passiert?«, fragte ich.
»Sie begann zu spielen. Die eröffnenden Quintparallelen aus ›La Cathédrale engloutie‹ …«
»Die eröffnenden
was
?«, warf Nora stirnrunzelnd ein.
»›La Cathédrale engloutie‹. Die versunkene Kathedrale.«
Peter strahlte. Er bemerkte unsere offensichtliche Ahnungslosigkeit und konnte sein Vergnügen nicht verbergen.
»Claude Debussy. Der französische Impressionist. Das ist eines meiner allerliebsten Präludien. Es erzählt die Geschichte einer Kathedrale, die am Meeresgrund versunken liegt. An einem strahlend hellen Tag erhebt sie sich aus der wogenden See und dem Nebel, mit ekstatisch erklingenden Glocken, hält sich wenige Sekunden lang in der Luft und schimmert in der Sonne, bevor sie erneut in unergründliche Tiefen hinabsinkt und nicht mehr zu sehen ist. Debussy weist den Musiker an, die letzten Akkorde
pianissimo
zu spielen, mit halbem Pedal, damit es wirklich so klingt, als ob die Kirchenglocken unter Wasser ertönen. Die Noten prallen aufeinander, bis sie leiser werden und so enden wie alles andere –
wie auch wir
–, mit ein paar nachhallenden Klängen und schließlich Stille.«
Er hielt inne, sein Gesicht verdunkelte sich.
»Sie konnte es nicht. Ihr Spiel – das eine solche Offenbarung gewesen war, voll schmelzendem Lyrismus und voller Romantik – war jetzt verstörend. Sie machte sich über das Stück her, aber die Noten entzogen sich ihr. Es war fahrig.
Verzweifelt.
Und als sie zu mir aufsah, war ich …« Er schluckte laut. »Ihre Augen waren blutunterlaufen. Sie sahen wirklich aus, als bluteten sie. Ihr Gesicht und die Verwandlung, die es seit unserer ersten Begegnung durchgemacht hatte, versetzten mich so sehr in Schrecken, dass ich augenblicklich losging, um die Polizei zu rufen. Ich ließ sie hier vorne alleine spielen. Doch als ich das Hinterzimmer betrat, hörte sie auf. Ich hörte nur noch Stille. Ich steckte den Kopf hinaus. Sie saß ganz still da und sah mich mit diesen Augen an, als wüsste sie, was ich vorhatte. Plötzlich griff sie sich ihre Tasche und ging. Einfach so.« Er schnippste mit den Fingern. »Das hat mir wirklich Angst eingejagt.«
»Wieso?«, fragte ich.
Er rang besorgt die Hände. »Sie bewegte sich wie ein Tier.«
»Ein
Tier
?«, wiederholte Hopper.
Peter nickte. »Es war zu schnell. Das war nicht normal.«
»In welche Richtung ist sie gegangen?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht. Ich ging wieder nach vorne, aber von ihr war keine Spur. Ich ging sogar hinaus, um mich umzusehen. Sie war nirgendwo. Ich schloss sofort den Laden ab. Ich wollte nicht allein im Geschäft sein.«
Er verfiel in ein melancholisches
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