Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Vierzehnjährige war unglaublich eloquent, wenn man dagegen die Sprache betrachtete, derer sich die Männer in ihrer alltäglichen Umgebung bedienten (jeder, der schon einmal ein Gespräch mit einem Latrinentonnenträger in Soweto geführt hat, weiß, dass die Hälfte seines Vokabulars nicht gedruckt und die andere Hälfte nicht mal gedacht werden dürfte). Aber es gab auch ein Radio in einer Ecke des Latrinenbüros, und von Kindesbeinen an hatte Nombeko das Gerät angestellt, sobald sie in der Nähe war. Sie stellte immer den Nachrichtensender ein und lauschte interessiert, nicht nur auf das, was da gesagt wurde, sondern auch, wie es gesagt wurde.
Das Wochenmagazin Ausblick Afrika verschaffte ihr erstmals die Erkenntnis, dass es eine Welt außerhalb von Soweto gab. Sie war nicht unbedingt schöner oder vielversprechender. Aber sie war außerhalb von Soweto.
Wie damals, als Angola gerade die Unabhängigkeit erlangt hatte. Die Freiheitspartei PLUA hatte sich mit der Freiheitspartei PCA zusammengetan, um die Freiheitspartei MPLA zu bilden, die zusammen mit den Freiheitsparteien FNLA und UNITA dafür sorgte, dass die portugiesische Regierung es bereute, diesen Teil des Kontinents überhaupt entdeckt zu haben. Eine Regierung, die es im Übrigen in den vierhundert Jahren ihrer Herrschaft nicht fertig bekommen hatte, eine einzige Universität zu bauen.
Die Analphabetin Nombeko durchblickte nicht ganz, welche Buchstabenkombination was bewirkt hatte, aber das Resultat schien doch eine Veränderung zu sein, und das war zusammen mit Essen das schönste Wort, das Nombeko kannte.
Einmal äußerte sie vor ihren Mitarbeitern laut den Gedanken, dass so eine Veränderung auch etwas für sie alle sein könnte. Doch die nörgelten nur, dass die Chefin sich jetzt auch noch hinstellte und über Politik reden wollte. Reichte es nicht, dass sie tagein, tagaus Scheiße schleppen mussten, sollten sie sich jetzt auch noch Scheiße anhören?
Als Chefin der Latrinenleerung kam Nombeko nicht darum herum, sich zum einen mit all ihren hoffnungslosen Fällen von Latrinenkollegen zu befassen, zum andern aber auch mit Assistent Piet du Toit von der Gesundheitsbehörde in Johannesburg. Als er nach ihrer Ernennung zur Chefin zum ersten Mal wieder vor Ort war, richtete er ihr aus, dass es keine vier neuen Waschhäuser geben werde, sondern bloß eines, aufgrund der schwierigen Budgetsituation. Nombeko rächte sich auf ihre eigene Weise:
»Ach, was ganz anderes: Wie beurteilt der Herr Assistent eigentlich die Entwicklung in Tansania? Steht das sozialistische Experiment von Julius Nyerere nicht kurz vorm Scheitern? Oder was meint der Herr Assistent?«
»Tansania?«
»Ja. Die Getreideunterproduktion nähert sich inzwischen fast einer Million Tonnen. Die Frage ist, was Nyerere überhaupt angefangen hätte, wenn es den internationalen Währungsfonds nicht gegeben hätte. Oder betrachtet der Herr Assistent schon den Währungsfonds an und für sich als Problem?«
Sagte das Mädchen, das nie in die Schule gegangen und niemals aus Soweto herausgekommen war. Zum Assistenten, der auf der Seite der Machthaber stand. Der eine Universität besucht hatte. Und keine Ahnung von der politischen Situation in Tansania hatte. Der Assistent war von Natur aus weiß, aber als das Mädchen nun mit dem Politisieren anfangen wollte, wurde er kreideweiß.
Piet du Toit fühlte sich von einer vierzehnjährigen Analphabetin erniedrigt. Die jetzt außerdem sein Dokument bezüglich der Sanitätsanlagen bemängelte.
»Was hat der Herr Assistent sich hierbei eigentlich gedacht?«, erkundigte sich Nombeko, die sich selbst die Zahlen beigebracht hatte. »Warum hat er die Zielvorgaben denn miteinander multipliziert?«
Eine Analphabetin, die rechnen konnte.
Er hasste sie.
Er hasste sie alle miteinander.
* * * *
Ein paar Monate später war Thabo zurück. Als Erstes musste er feststellen, dass das Mädchen mit der Schere seine Chefin geworden war. Und dass sie kein ganz so kleines Mädchen mehr war. Langsam, aber sicher bekam sie doch Kurven.
In dem fast zahnlosen alten Mann bahnte sich ein innerer Konflikt an. Einerseits meldete sich der Instinkt, sich auf sein mittlerweile ziemlich lückenhaftes Lächeln, seine Erzählkünste und Pablo Neruda zu verlassen. Andererseits war sie eben doch seine Chefin. Und dann war da ja noch die Geschichte mit der Schere.
Thabo beschloss abzuwarten, aber in Position zu gehen.
»Jetzt wird es wohl doch höchste Zeit, dass ich dir das Lesen
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