Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Konversation zu betreiben. Andererseits war es das erste Mal, seit er nach Soweto gekommen war, dass sich jemand für seine Bücher zu interessieren schien. Seine ganze Hütte war voll mit Büchern, weswegen ihn seine Umgebung den Verrückten Thabo nannte. Doch das Mädchen hier hörte sich eher neidisch als höhnisch an. Vielleicht konnte er sich das ja zunutze machen?
»Wenn du ein bisschen entgegenkommend wärst und nicht so über die Maßen gewalttätig, könnte es sein, dass Onkel Thabo dir dafür seine Geschichte erzählt. Er würde dir vielleicht sogar beibringen, wie man Buchstaben und ganze Wörter entziffert. Wenn du eben, wie gesagt, ein bisschen entgegenkommend wärst.«
Nombeko hatte mitnichten vor, entgegenkommender zu dem alten Schmierlappen zu sein, als sie es tags zuvor in der Dusche gewesen war. Daher antwortete sie, dass sie glücklicherweise noch eine Schere besaß, die sie aber lieber behalten würde, als sie in Onkel Thabos anderem Oberschenkel zu versenken. Doch wenn der liebe Onkel sich gut benahm – und ihr das Lesen beibrachte –, konnte Oberschenkel Nummer zwei unversehrt bleiben.
Thabo konnte nicht so recht folgen. Hatte das Mädchen ihm gerade gedroht?
* * * *
Man sah es ihm nicht an, aber Thabo war reich.
Er wurde unter einer Plane im Hafen von Port Elizabeth in der Provinz Ostkap geboren. Als er sechs war, nahm die Polizei seine Mutter mit und brachte sie nie zurück. Sein Vater fand, dass der Junge alt genug war, um auf eigenen Beinen zu stehen, obwohl er selbst so seine Probleme damit hatte.
»Pass gut auf dich auf«, lautete die Quintessenz väterlicher Lebensweisheit. Er klopfte seinem Sohn auf die Schulter und fuhr nach Durban, um sich bei einem schlecht geplanten Bankraub erschießen zu lassen.
Der Sechsjährige stahl sich im Hafen zusammen, was er zum Überleben brauchte. Im besten Fall würde er heranwachsen und im Laufe der Jahre entweder im Gefängnis landen oder erschossen werden, wie seine Eltern.
Doch in seinem Slum wohnte seit ein paar Wochen auch ein spanischer Seemann, Koch und Dichter, der einstmals von zwölf hungrigen Matrosen über Bord geworfen worden war, die fanden, dass sie zum Mittagessen etwas zwischen die Kiefer brauchten und keine Sonette.
Der Spanier schwamm an Land, fand eine Hütte, in der er sich verkriechen konnte, und lebte seitdem für Gedichte aus eigener und fremder Feder. Als er mit der Zeit immer schlechter sah, fing er sich stracks den jungen Thabo ein und zwangsalphabetisierte ihn, wofür er ihn mit Brot entschädigte. Für noch ein bisschen mehr Brot musste der Junge dem alten Mann dann bald regelmäßig vorlesen, weil dieser inzwischen nicht nur ganz blind war, sondern auch noch halb senil und selbst nichts anderes mehr zu sich nahm als Pablo Neruda zum Frühstück, zum Mittagessen und zum Abendbrot.
Die Matrosen hatten recht gehabt, als sie behaupteten, der Mensch könne nicht von Gedichten allein leben. Der alte Mann verhungerte nämlich, und Thabo beschloss, sämtliche Bücher von ihm zu erben. Einen anderen Anwärter gab es sowieso nicht.
Seine Lesekenntnisse ermöglichten es dem Jungen, sich mit diversen Gelegenheitsjobs im Hafen durchzuschlagen. Am Abend las er Gedichte, Romane und – vor allem Reisebeschreibungen. Als Sechzehnjähriger entdeckte er das andere Geschlecht, das zwei Jahre später auch ihn entdeckte. Denn erst als Thabo achtzehn war, fand er eine funktionierende Taktik. Sie bestand aus einem Drittel unschlagbarem Lächeln, einem Drittel erfundenen Geschichten von irgendwelchen Reiseerlebnissen, obwohl er den Kontinent bis dato nur in seiner Fantasie bereist hatte, und dazu noch einem Drittel dreisten Lügen, wie ewig seine und ihre Liebe währen würde.
Richtigen Erfolg erzielte er jedoch erst, wenn er seinem Lächeln, seinen Erzählungen und den Lügen etwas Literatur beimischte. Unter den geerbten Büchern fand er eine Übersetzung, die der spanische Seemann von Pablo Nerudas 20 Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung angefertigt hatte. Das Lied der Verzweiflung riss Thabo heraus, aber die zwanzig Liebesgedichte probierte er an zwanzig verschiedenen jungen Frauen im Hafenviertel aus und konnte so neunzehn Mal Gelegenheitsliebe mitnehmen. Und es hätte auch noch ein zwanzigstes Mal geben können, wenn dieser Idiot Neruda nicht ganz am Schluss diese eine Zeile hineingemogelt hätte: »Ja, ich liebe sie nicht mehr.« Thabo merkte es erst, als es zu spät war.
Ein paar Jahre später wussten die meisten im
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