Die Anatomie des Todes
sie die schroffen Felsen wie eine Reihe spitzer Zähne aus dem brausenden Inferno aufragen.
»Nicht nach unten gucken ⦠nicht nach unten gucken«, hörte sie sich murmeln.
Sie kletterte weiter hinunter, stets auf der Suche nach einem Vorsprung oder einer Kante, an der sie sich festklammern konnte, um ihren verletzten Fuà zu entlasten. Eine Zeit lang war der Lichtkegel über ihr verschwunden, was vermuten lieÃ, dass auch ihr Verfolger vollauf damit beschäftigt war, über die glitschigen Steine zu klettern. Während der Wasserfall in ihren Ohren brauste, stieg sie tiefer und tiefer hinab. Sie war schneller als er, vielleicht hatte sie eine bessere Route gefunden. Oder war sie nur wagemutiger? Die Brücke türmte sich vor ihr auf. Selbst das reflektierende Licht der weiÃen Gischt wurde von ihr verschluckt. Nur wenige Meter von ihr entfernt stürzten die Wasserkaskaden senkrecht in die Tiefe und durchnässten sie bis auf die Knochen. Sie musste weiter hinein ins Dunkel und sich
hinter den runden Felsen verbergen, die aussahen wie die gebeugten Rücken Hunderter von Riesen, die sich vor dem Wasserfall verneigten. Wenn sie nur einen Ast fand, auf den sie sich stützen konnte, um ihren Knöchel zu entlasten. Im Dunkeln tastete sie sich weiter und entdeckte einen kleinen Pfad, der sie näher an den reiÃenden Fluss zu führen schien. Du schaffst das, du schaffst das, hallte es mit jedem humpelnden Schritt durch ihren Kopf. Vielleicht war er von den Felsen in den Fluss gestürzt. Vielleicht hatte er aufgegeben. Wollte für sie nicht sein Leben riskieren.
Ihre Zuversicht wuchs, bis sie plötzlich von einem hellen Licht geblendet wurde.
Er musste sie im Dunkeln überholt haben, während seine Schritte vom Wasserfall übertönt worden waren. Sie hielt sich schützend eine Hand vor die Augen.
»The bottle«, sagte eine Stimme mit starkem Akzent.
Das war also der Grund, warum er sie nicht angegriffen hatte. Er wollte sichergehen, dass sie nicht mit ihrem wertvollen Gut in den Fluss stürzte, nur um zu einem späteren Zeitpunkt von einer Rettungsmannschaft aus den Fluten gefischt zu werden.
Als er die Taschenlampe ein wenig senkte, konnte sie sein Gesicht sehen. Das Lächeln mit dem schlechten Gebiss.
Er streckte die Hand aus. »Please.«
Maja wusste, was das Lächeln bedeutete. Es war vorbei. Ihre Flucht, die sich über die letzten Monate, in Wahrheit die letzten Jahre erstreckt hatte, würde am FuÃe dieses Wasserfalls ein Ende finden. So oft hatte sie sich in seinem Anblick verloren. Weil sie ihr Schicksal vorausgeahnt hatte?
Sobald sie ihm das Fläschchen gab, würde er sie in den reiÃenden Fluss stoÃen. So wie Munkejord. Allmählich musste er Ãbung darin haben.
Er machte einen Schritt auf sie zu. Sie standen jetzt beide an der äuÃersten Kante.
Maja schaute sich um. Nichts konnte sie dazu bringen, ihm freiwillig das Fläschchen zu geben. Dann wollte sie es lieber mit auf die letzte Reise nehmen und darauf hoffen, dass ihr Körper es vor den schroffen Felsen schützte.
Er schien ihre Gedanken zu ahnen, denn plötzlich packte er sie blitzschnell am Kragen.
Aber er hatte bestimmt nicht damit gerechnet, dass sie dasselbe tun würde. Sie sah einen Anflug von Panik in seinen Augen aufblitzen. Sie lächelte kurz, ehe sie sich mit ihrem ganzen Gewicht nach hinten warf und ihn mit sich in den tosenden Fluss riss. Sein Schrei wurde von den Fluten erstickt.
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Die Strömung war so stark, dass sie sofort auseinandergerissen wurden. Sie versuchte sich zusammenzukrümmen. Ihren Kopf vor den Felsen zu schützen. Aber der Fluss lieà das nicht zu. Er hatte sie in seiner Gewalt, wirbelte sie herum, stieà sie nach vorn und zog sie in die Tiefe. Die scharfen Kanten unter der Oberfläche zerfetzten ihre Kleider, prügelten auf ihren Körper ein und schnitten in ihren Kopf.
Sie hatte kaum noch Luft übrig. Wenn sie der Fluss nicht gleich wieder freigab, war sie verloren. Die Lungen befahlen ihr zu atmen. Der Druck auf ihren Brustkorb wuchs, stieg in den Hals und schnürte ihr die Kehle zu. Strudel zogen sie in die Tiefe. Beraubten sie der letzten Hoffnung. Sie kämpfte gegen den Krampf an, der ihr den Hals öffnen wollte, um das Wasser ungehindert in sie einströmen zu lassen. SchlieÃlich gab sie dem Schmerz nach. Es war ein Reflex, und der Körper musste ihm folgen. Sie
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