Die andere Seite des Glücks
eventuell einen neuen Plan überlegen. Aber ich werde betonen, dass Sie damit Initiative und Mut zeigen und außerdem das Familienerbe erhalten, was man von ihr sicher nicht behaupten kann.
Und noch etwas Unschönes: Der Vorschuss auf meine Rechtsanwaltsgebühren beträgt fünftausend Dollar. So viel brauche ich, um gerichtlich dagegen vorgehen zu können. Einen Prozess sollten wir zu vermeiden versuchen, sonst wird es wirklich teuer: Ermittlungen werden angestellt, ein Sozialarbeiter mit einbezogen, Lehrer befragt, Ärzte, Familie, Freunde – sogar die Kinder selbst. Aber ich glaube nicht, dass wir so weit gehen müssen.«
Wieder nickte ich, gab mir Mühe, nicht so hoffnungslos auszusehen, wie ich mich fühlte. Warum hatte ich mein ganzes Geld so früh in den Laden gesteckt? Und meine Energie?
Kraftlos schleppte ich mich zurück zum Wagen, saß eine Weile einfach nur da mit der Stirn auf dem Lenkrad und vor Müdigkeit brennenden Augen. Schließlich zwang ich mich, den Motor anzulassen. Auf dem Nachhauseweg verspürte ich eine wachsende Verzweiflung. Nicht jetzt. Ich brauchte einen Plan. Ich musste essen. Und schlafen. Ich musste mich um meine Kinder kümmern. Wie ging es ihnen gerade? Ein Erinnerungsfetzen blitzte auf: wie verwirrt und verloren ich mich nach dem Tod meines Vaters gefühlt hatte. Und auch in der Nacht nach dem 11 . September, der großen amerikanischen Tragödie, hatte meine Mutter mich mit den Worten beruhigt, dass wir beide ja auch den Tod von Dad überstanden hatten, was stimmte. Doch ich erinnerte mich an jene ersten Monate, wie sehr ich an meiner Mutter hing und wie leer ihr Blick wurde, wenn ich versuchte, mit ihr zu reden. Nachts hörte ich ihren Fernseher im Nebenzimmer, und wenn ich aus der Schule nach Hause kam – ich ging in die dritte Klasse –, waren die Gardinen noch zugezogen, das Verandalicht brannte noch, die Zeitung lag noch auf der Treppe, und meine Mutter war noch immer im Nachthemd. Das durfte mir nicht passieren, ich musste den Kindern durch diese schwere Zeit helfen.
Ich musste mich gegen Paige zur Wehr setzen. Geld verdienen. Aufhören zu schwitzen, meine Brust musste aufhören zu schmerzen. Ich musste atmen. Warum schwitzte ich so sehr? Hatte ich Fieber? Meine Brust schmerzte, der Arm tat mir weh. Ich konnte nicht atmen.
Und dann war es mir schlagartig klar: Ich musste sofort in ein Krankenhaus.
Das Memorial Hospital war nur zwei Straßen entfernt, doch ich hatte Angst weiterzufahren, Angst, von der Straße abzukommen und einen Fußgänger umzufahren. Ich parkte den Wagen und überquerte die Straße, wurde fast selbst angefahren. Der Schweiß lief mir immer noch übers Gesicht, der Druck in meiner Brust war schier unerträglich. Ich war fünfunddreißig Jahre alt, schlank und aß massenweise Biogemüse. Ich war aber auch die Tochter eines Mannes, der mit vierzig an Herzversagen gestorben war. Ich ging direkt zum Schalter der Notaufnahme.
»Ich glaube … ich glaube, ich habe einen Herzanfall«, flüsterte ich.
Sie warf einen kurzen Blick auf mich, griff zum Telefon und schrie hinein: »Möglicher Herzstillstand. Weiblich, etwa dreißig –«
»Fünfunddreißig«, sagte ich. Innerhalb kurzer Zeit lag ich auf einer Tragbahre und beantwortete Fragen. Was für Symptome hatte ich? Seit wann? Wie stark waren die Schmerzen? Wen sollen sie anrufen?
Wen sie anrufen sollen?
Joe
, dachte ich.
Ruft Joe an
. »Meinen Mann«, sagte ich. »Aber er ist tot.«
Wieder die Frage: Wen sollen wir anrufen? Nicht Marcella – sie passte auf die Kinder auf. Meine Mutter war zu weit weg. Wen gab es noch? Lucy. Sie konnten Lucy anrufen. Ich gab ihnen ihre Nummer zusammen mit meiner Versicherungskarte.
Vier Stunden und fünf Untersuchungen später erklärte Dr. Irving Boyle mir die diffizilen Ursachen von Angstattacken und warum ich eine perfekte Kandidatin dafür war. Er hatte einen struppigen langen Bart, mit dem er mehr wie ein Philosophieprofessor als wie ein Arzt aussah. Er sagte: »Ihr Herz ist gesund.« Er setzte sich auf seinen Stuhl, klemmte den Stift hinters Ohr und stützte beide Hände auf die Knie. »Abgesehen davon, dass es gebrochen ist. Traurigkeit und Depressionen können Angst auslösen, und Angst wiederum kann so eine Attacke wie heute evozieren. Der kürzliche Tod ihres Mannes hat Ihnen sehr zugesetzt, sowohl physisch als auch psychisch. Sie haben einen großen Verlust erlitten, das tut mir sehr leid. Ich möchte Ihnen vorschlagen, einen Angsthemmer und vielleicht ein
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