Die andere Seite des Glücks
und ihrem Vater aufzunehmen, wurde ich ignoriert. Ich schrieb zahlreiche Briefe sowohl an meine Kinder als auch an ihren Vater, doch nur die ersten wurden beantwortet.
Briefe? Ist das dein Ernst? Du hast deine Kinder und deinen Mann wegen ein bisschen Babyblues verlassen? Und jetzt bist du so verzweifelt, dass du sogar lügst?
Da ich gerade von einer Krankheit genas, verstand ich meine Rechte hinsichtlich des Sorgerechts nicht ausreichend, noch besaß ich die finanziellen Mittel und das physische oder mentale Durchhaltevermögen, dem Vater das Sorgerecht für die Kinder streitig zu machen, als er die Scheidung einreichte. Ich konzentrierte mich darauf, mir eine Existenz aufzubauen, mit der Absicht, so schnell wie möglich mein Recht als Mutter der Kinder zurückzufordern. Ich arbeite jetzt als Home Stager und bin ausgesprochen erfolgreich. Meine Arbeit ist lukrativ, und ich kann meine Tage flexibel gestalten. Ich habe ein Büro in meinem Haus eingerichtet und bin in der Lage, für Annie und Zach sowohl finanziell als auch emotional zu sorgen. Obwohl ihre Stiefmutter als Betreuerin meiner Kinder adäquate Arbeit leistet, leiden Annie und Zach unter dem Verlust ihres Vaters und sollten unbedingt mit ihrer leiblichen Mutter zusammen sein. Ich kann ihnen die Liebe und Unterstützung geben, die nur eine richtige Mutter geben kann.
Oh, willst du wirklich wissen, was eine richtige Mutter ausmacht? Adäquat? Und lass uns drüber reden, wozu du in der Lage bist, was du Annie und Zach angetan hast, nämlich genau das, was eine Mutter bei vollem Verstand ihren Kindern niemals antun würde.
Ich beantrage das volle Sorgerecht für meine Kinder und dass sie bei mir in Las Vegas leben, wo ich ein schönes Haus in einem kinderreichen Viertel besitze.
Ich versichere an Eides statt, dass meine Angaben der Wahrheit entsprechen und korrekt sind.
Ein Mediationstermin war für den ersten Oktober anberaumt; ein Anhörungstermin – was immer das war – für den dritten November. Eine Aufforderung, diverse Dokumente – einschließlich der fiktiven Briefe – vorzulegen, war ebenfalls beigefügt.
Joe hatte sich nie anmerken lassen, wie schlimm es um den Laden stand. Das schockierte mich zwar, doch irgendwie konnte ich sogar verstehen, wie es dazu gekommen war. Der Laden war allein seine Angelegenheit gewesen. Er hatte immer gehofft, das Ruder herumreißen zu können, so dass niemand – nicht einmal ich – je erfahren hätte, wie kritisch die Lage war. Ich war nie in den Tagesbetrieb des Ladens involviert gewesen. Aber die Kinder – das war etwas anderes. Was Annie und Zach betraf, hatten Joe und ich uns wirklich alles mitgeteilt. Wir gingen gemeinsam mit ihnen zum Arzt, wir waren beide bei Annies erstem Kindergartentag dabei, freuten uns über jedes neue Wort von Zach – auch die wirklich unpassenden. Joe hätte mir von Paiges Anliegen, Briefkontakt mit den Kindern zu haben, erzählt. Und es stand für mich außer Zweifel, dass Joe nicht grausam war.
Ich schleuderte das Papierbündel von mir. Es flatterte nur kurz durch die Luft und landete dann kraftlos auf dem Boden.
Ich glaube, in der Nacht schlief ich nicht mehr als zwanzig Minuten. Sobald ich am nächsten Morgen die Kinder in Schule und Kindergarten gebracht hatte und wieder zu Hause war, rief ich die ganze Truppe an – alle Angehörigen von Joe, Lucy, meine Mutter, Frank – und erzählte ihnen, dass Paige das Sorgerecht beantragt hatte. Niemand von ihnen schien sich deswegen Sorgen zu machen. »Kein klar denkender Richter würde dieser Frau das Sorgerecht zusprechen«, versicherte mir Marcella.
Bei der Scheidung hatte Joe den ganzen Papierkram ohne Anwalt erledigt, doch ich würde einen brauchen. Frank empfahl mir eine Anwältin, die ich sofort anrief. Sie konnte mich kurzfristig in ihrer Mittagspause einschieben – würde ich das schaffen? Ich bat Marcella, die Kinder nachher abzuholen, und stellte sicher, dass Gina und David im Laden sein würden.
Auf der Fahrt musste ich an meinen letzten Besuch bei einem Anwalt denken – als Henry und ich die Scheidung einreichten. Henry, der vor langer Zeit einmal mein attraktiver Laborkollege in dem Seminar »Protisten als Zellen und Organismen« gewesen war, hatte gesagt, mein Name erinnere ihn an das Versandhaus L. L. Bean. Und dass er sich mich in deren Katalog vorstellen könnte, in Daunenweste, Jeans und Anglerstiefeln. Er sah mich zudem auf der Veranda einer Hütte in Vermont, wie ich ein einfaches Leben führte, mit
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