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Die andere Seite des Glücks

Die andere Seite des Glücks

Titel: Die andere Seite des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seré Prince Halverson
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Dachsparren hing eine nackte Glühbirne mit einer kurzen Schnur, an der ich zog. Es roch hier nach Moder – und nach Erinnerungen. Aufeinander gestapelte Kartons, ein paar alte, staubige Möbel, eine Spiegelkommode und ein Sekretariatsschreibtisch, wahrscheinlich noch aus der Zeit von Joes Großeltern. Wenn es irgendwelche Briefe gab, dann hier.
    Ich begann mit den Kartons. Nicht die mit Aufschriften wie
Joey’s Baseball-Pokale
oder
Davies Schulaufgaben
, sondern mit den unbeschrifteten in der Ecke. Im Ersten, den ich aufmachte, lag der Paisley-Morgenmantel. Ich erkannte ihn sofort, die Wirbel aus Aquamarin, Honig und Immergrün, und wusste nun auch, dass sie Paiges Augenfarbe spiegelten, ihre Haut – selbst wenn sie ihn jeden Tag getragen hatte, vierundzwanzig Stunden lang, hatte sie bestimmt noch phantastisch darin ausgesehen. Joe hatte ihn nach unserem ersten Abend weggepackt. Er hatte ihn vom Haken an der Badezimmertür genommen, aber weder fortgeworfen noch weggegeben oder Paige zurückgeschickt. Er hatte ihn behalten. Weil sie ihm fehlte? Weil er hoffte, dass sie zurückkam? Hatte er – wie jetzt ich – die Bürotür abgeschlossen, den Aktenschrank beiseitegeschoben, den Karton geöffnet und den Morgenmantel herausgenommen, ihren Duft eingesogen, so wie ich den Duft aller seiner Shirts eingesogen hatte?
    Oder vielleicht hatte er ihn einfach nur in den Karton gestopft, zu ihren anderen Sachen, und keine Lust gehabt, sich darum zu kümmern. Vielleicht hatte er sie schon vergessen.
    Auf einige andere Sachen im Karton traf das sicher zu, die alten Make-up-Fläschchen, eine Schachtel Tampons. Die zerlesene Ausgabe von
Ein Baby kommt
, ein paar Münzen und eine Haarbürste, in der noch goldene Haare hingen.
    Nein, das war kein Schrein. Das war ein hastig gepackter Karton, weggeräumt, vergessen.
    An dem Punkt hätte ich aufhören und die Kammer hinter mir schließen, den Aktenschrank zurück vor die Tür und die Schubladen wieder reinschieben sollen. Stattdessen öffnete ich einen weiteren Karton und noch einen, in denen Annies Babykleider waren – fast alles winzige Teile in Rosa und Weiß, oder Pfirsich und Weiß, kleine Baumwollandenken an eine Zeit, die ich selbst niemals erleben würde. Es gab sogar einen Strampler mit kleinen Enten drauf, den ich wiedererkannte. Den gleichen hatte ich während meiner ersten Schwangerschaft bei Gap Kids gekauft und im Kinderzimmerschrank hängen lassen, als ich Henry verließ. Wo er jetzt wohl war? Hatte er ihn weggepackt, in einen Karton mit anderen Dingen, die ich zurückgelassen hatte? Oder weggegeben, was wahrscheinlicher war?
    Paige und ich waren zur selben Zeit schwanger gewesen. Als ich die Kinder vor drei Jahren kennenlernte, hatte ich ausgerechnet, dass eines meiner Babys ungefähr so alt wie Annie gewesen wäre. Ich fand Annies Babybuch, das ich nie zuvor gesehen hatte, obwohl das eines der wenigen Dinge gewesen war, nach denen ich Joe gefragt hatte. Er hatte nur mit den Schultern gezuckt und gemeint, er wüsste nicht genau, wo es sei. Hatte Paige es in den Karton getan, um es eines Tages wieder hervorzuholen? Es war selbstgemacht, die Buchdeckel mit rosa und weißem Hasenstoff überzogen, in der Mitte der Name mit Kreuzstich, Annie Rose Capozzi, und ihr Geburtstag, 7 . November. Ich dachte kurz daran, es nicht zu öffnen, aber höchstens zwei Sekunden lang. Obwohl ich wusste, dass nichts darin mir guttun würde, schlug ich es auf, sah mir die Fotos von Paige an, die selbst in den Wehen liegend noch leuchtete, von Joe und Paige und Annie aneinandergekuschelt im Krankenhausbett, umgeben von rosa Blumensträußen und Luftballons. Beide lächelten strahlend – ein Lächeln, das sie wie die beiden symmetrischen Hälften eines Ankers mit ihrem Kind verband.
    Ich blätterte weiter, sah Fotos von Annie, von Annie mit Marcella, mit Joe senior, mit Frank und Lizzie und David, aber keine weiteren Fotos von Paige, nicht bis Ostern, fünf Monate später, als sie ihren Platz wieder eingenommen hatte, aus der Vergessenheit wiederauferstanden. Mit Joe gab es kaum Fotos, denn er hatte die meisten gemacht. Das war für mich fast noch schlimmer, denn diese Aufnahmen spiegelten das wider, was er gesehen hatte, was er liebte – seine Präsenz darauf war stärker, als wenn er immer mittendrin gestanden hätte. Der Ausdruck auf Paiges Gesicht, jene Art Lächeln, das man nur einem einzigen Menschen auf dem Planeten schenkte. Und Annie auf ihrem Arm.

    Später am Abend saß ich im

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