Die andere Seite des Glücks
damit du das niemals vergisst. Es ist ein schmerzlicher, aber nützlicher Denkzettel. Und jetzt mach den Mund auf.« Ich presste die Lippen zusammen, doch sie schob die Seife mit Gewalt bis an meine Zähne und rieb sie hin und her. Tränen stiegen mir in die Augen, ich würgte, und das wächserne Feuer brannte sich in meinen Hals und auch in meine Seele. Der scharfe Geschmack im Mund hielt sich scheinbar ewig, doch nicht annähernd so lange wie meine brennende Scham. Zum Schluss gab sie mir eine Blechtasse mit Wasser und ein rosa Handtuch aus dem Wäschetrockner. »Okay, das ist getan. Verstehst du, warum das sein musste?«
Ich nickte, obwohl ich weder mein Leben noch die Menschen, die ich liebte, verstand. Sie zog das Spitzentaschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und wischte die Tränen von meinen Wangen. »In ein paar Minuten sehe ich dich oben«, sagte sie und stieg schwerfällig die Treppe hinauf. Als ich in die Küche zurückkam, rief sie: »Oh, seht mal, da ist ja unsere Ella. Greif zu, mein Kind.«
Ich nahm mir ein Erdnussbutterplätzchen, sie beugte sich vor und drückte mir einen Kuss auf den Kopf. Und das war’s. Sie hatte den Vorfall nie wieder erwähnt, und ich natürlich auch nicht. Erst vor ein paar Tagen, bei dem Gespräch mit meiner Mutter, hatte ich ihn aus den Tiefen meines Gedächtnisses hervorgeholt – den Grund für mein Verhalten, das mein Leben wesentlich geprägt hatte: Nicht hinsehen, nicht fragen. Und um Himmels willen nicht sagen, was man wirklich denkt.
An diesem Abend, dem Abend vor der Unterzeichnung der Vereinbarung, mit der mir das Sorgerecht zugesprochen würde, spritzte ich Lizzies Kinderbadeschaum in Annies und Zachs Badewasser. Ich wickelte die beiden Kinderseifen aus, gab jedem eine, hockte mich vor die Wanne und seifte sie nacheinander damit ein – ihr helles, weiches Haar, ihren verschwitzten Hals und Oberkörper, ihre Arme und Beine und Ellbogen und Knie. Ich kannte jede ihrer Sommersprossen, die Ursache für jede ihrer Narben, erinnerte mich an das Wetter von jedem dieser schicksalsträchtigen Tage. Ich spülte den Schaum aus ihren Haaren und saugte ihr Kichern ein, als ich sie zwischen den Zehen wusch.
Zach hielt mir seinen Fuß hin und stellte die Frage, die er beim Baden immer stellte: »Mommy? Kriegst du die Stinke aus meinen Stinkefüßchen?«
»Klaro.«
»Jetzt sind sie Zuckerfüßchen?«
»Zum Reinbeißen süß!« Ich nahm seinen Fuß und küsste seine Zehen, und er quietschte und versuchte, ihn wegzuziehen.
Dann standen Annie und Zach fröstelnd vor der Badewanne, und ich rubbelte ihre Haare und Körper mit warmen Handtüchern aus dem Trockner ab, half beiden Kindern in ihren Schlafanzug, knöpfte Oberteile zu, drückte auf Druckknöpfe und kämmte blitzsauberes Haar. An diesem Abend stiegen sie zu mir ins Bett, und ich hielt sie in den Armen, hielt sie und hielt sie und hielt sie.
Gegen drei Uhr morgens schlüpfte ich aus dem Bett. Ich legte Holz im Ofen nach, holte die Briefe aus dem Schrankregal, ging auf Zehenspitzen in unsere Nicht-so-Gute-Stube und erfuhr, was Paige Capozzi, nachdem sie vor mehr als drei Jahren an einem verregneten Sonntag weggegangen war, meinem Mann und meinen Kindern geschrieben hatte.
26. Kapitel
18 . Februar
Lieber Joe,
ich muss Euch verlassen. Ich kann nicht weiter so tun, als wäre ich jemand, der ich nicht bin. Du weißt, dass ich Annie und Zach liebe. Du weißt, dass ich Dich liebe. Aber da ist dieser andere Teil in mir … Ich habe Angst. Es ist, als wäre ich tief im Inneren meine Mutter. Aber Du willst das nicht hören. Dr. Blaine will das nicht hören.
Das alles ist entsetzlich schwer für mich. Doch es wäre Dir und ihnen gegenüber nicht fair, wenn ich bliebe. Ich komme nicht zurück. Ich hätte niemals Kinder haben sollen. Es war verrückt, zu versuchen, eine Mutter zu sein. Aber ich bin verrückt.
Der viele Regen macht mich noch verrückter, das sanft plätschernde Wasser drückt mir aufs Gemüt, den ganzen Tag, jeden Tag. Las Vegas ist trocken. Hier ist es warm und hell.
Bitte sag den Kindern nicht, ich würde zurückkommen. Ihr müsst ein neues Leben ohne mich beginnen. Deine Familie wird Dir helfen. Mach weiter all das, was Dir von Natur aus leichtfällt, mir aber leider nicht: Spiel mit ihnen, küsse sie und nimm sie in die Arme, lass sie bitte nie mehr los.
Vergiss bitte nicht, dass ich es versucht habe.
Paige
Das war der Brief, von dem ich wusste. Joe hatte nicht gelogen. Als Nächstes kam
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