Die andere Seite des Glücks
aufzupassen. Joe war außer sich. Natürlich kam Marcella zu Hilfe geeilt und kümmerte sich. Paige hat mir ständig erzählt, was für eine schreckliche Mutter sie sei, dass sie nie ein Kind hätte bekommen sollen. Sie weinte die ganze Zeit und sah Annie an, als hätte sie eine komisch geformte Lampe vor sich. Man muss Joe zugutehalten, dass er wann immer möglich aus dem Laden nach Hause kam. Er hielt Annie auf dem Arm und sang ihr Lieder vor.«
Lizzie erzählte weiter, bereitete aber gleichzeitig die Gussformen vor. Als Annie etwa vier Monate alt war, schien es Paige wieder besserzugehen. Aus meiner Sicht war klar, dass sie unter einer postpartalen Depression gelitten hatte. Aber damals war das etwas, worüber in Elbow niemand sprach und was auch niemand wirklich verstand. Paige ging es zwar wieder besser, sie war aber irgendwie verändert und noch zurückhaltender als zuvor. Doch sie war Lizzie immer noch eine gute Freundin und Annie eine gute Mutter, und auch Paige und Joe schienen wieder zueinandergefunden zu haben. Aber dann wurde sie mit Zach schwanger. Sie sagte Lizzie, dass es ein Fehler sei und sie furchtbare Angst habe. Sie wollte nicht zurück an diesen dunklen Ort. Zwar sprach sie nie von Abtreibung, doch Lizzie glaubte, dass Paige die Möglichkeit in Betracht zog – aus purer Verzweiflung. Paige wandte sich an ihren Arzt, doch der teilte ihre Bedenken nicht. Und alle anderen auch nicht. »Niemand in der Familie, Joe eingeschlossen, wollte über Paiges Depression sprechen, als ob schon die Erwähnung eine neue auslösen würde. Aber in Joes Augen konnte ich sehen, dass auch er große Angst hatte.«
Ich hörte Lizzie so angestrengt zu, dass ich mit dem Rühren aufgehört hatte und sie nun auf meinen Holzlöffel zeigte. »Oh, tut mir leid«, sagte ich und fing wieder an, Achten zu rühren. Und zwang mich zu der Frage: »Ist da noch mehr?«
Sie suchte meinen Blick. »Ich habe noch nie darüber gesprochen«, sagte sie. »Mit keinem Menschen. Aber vielleicht hilft es Paige – und dir.« Lizzie seufzte, den Blick auf die Flüssigkeit gerichtet. »Natürlich kamen die Depressionen zurück, und diesmal noch schlimmer als nach Annies Geburt. Der Arzt verschrieb ihr schließlich ein Antidepressivum, aber Paige schüttete die Pillen ins Klo, was Joe noch viel mehr verstörte. Doch sie hatte Angst, Zach zu schaden. Denn das Einzige, was sie schaffte, war Zach zu stillen, aber sie tat es mit einer … ich weiß nicht, wie ich es nennen soll … teilnahmslosen Entschlossenheit. Sie stillte ihn nach einem festen Zeitplan, ohne ihn dabei anzusehen oder zu streicheln. Irgendwann sagte ich zu Joe: ›Sie muss unbedingt in eine Klinik‹. Er sah mich entsetzt an. Er steckte so sehr mittendrin, dass er schon nicht mehr klar sehen konnte, und sagte: ›Nein, das wird schon wieder – wir müssen nur die ersten vier Monate durchstehen, wie bei Annie.‹ Ich widersprach: ›Diesmal ist es anders.‹ Kurz darauf erklärte mir Paige, sie müsse sich von Annie und Zach fernhalten. Ich weiß noch, dass es ein Samstag war und ich die Kinder mit zu mir nach Hause genommen hatte. Sie waren so lange bei mir, bis Joe den Laden zugemacht hatte und sie abholte. Ich erzählte ihm, was sie mir gesagt hatte, und jetzt nahm er es ernst. Aber am nächsten Tag war sie verschwunden.«
»Hast du danach noch etwas von ihr gehört?«
Lizzie schüttelte den Kopf. »Ein einziges Mal. Ich habe ihr geschrieben, wollte mit ihr in Verbindung bleiben, aber sie hat nie geantwortet.«
Lizzie atmete tief durch. »Wow, vermutlich musste das alles mal raus.« Sie blickte hinauf zu den Dachsparren, wollte anscheinend noch etwas hinzufügen, zögerte aber. Schließlich sagte sie: »Nach Joes Tod hat Frank mir erzählt, dass Joe ihm einmal anvertraut hatte, von Paige Briefe bekommen zu haben, die er aber nie geöffnet hatte. Die Mutter seiner Kinder hatte versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen, doch er hatte es ignoriert. Und kurz vor seinem Tod hatte Joe Frank erzählt, dass Paige ihn angerufen hatte. Sie wollte eine neue Sorgerechtsregelung. Er sagte, dass er mit dir darüber reden müsse – dass es ihn davor wirklich grause.«
Ich ließ den Rührlöffel los und vergrub das Gesicht in den Händen. Ich erinnerte mich genau an jene Nacht. Wir hatten das Gespräch nicht geführt, weil mir nicht danach gewesen war. Wir hatten das letzte Mal miteinander geschlafen, und ich wollte mein Glücksgefühl auskosten und lieber bis zum nächsten Tag warten.
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