Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
New York fahren, und wenn sie dort Fuß gefasst hatte, würde sie uns nachkommen lassen.
»Was meinst du, wie lange wird Mom brauchen, um Fuß zu fassen?«, fragte ich Liz.
Wir waren dabei, uns vor dem Schlafengehen im Vogeltrakt-Badezimmer die Zähne zu putzen. Um Geld für Zahnpasta zu sparen, vermischte Onkel Tinsley Salz und Backnatron miteinander. Der Geschmack war gewöhnungsbedürftig, aber der ganze Mund fühlte sich danach richtig gut geputzt an.
»Fuß fassen ist eine Sache«, sagte Liz, »sich in den Griff kriegen eine ganz andere.«
»Wie lange wird das dauern?«
Liz gurgelte und spuckte aus. »Könnte sein, dass wir eine Weile hierbleiben.«
Am nächsten Morgen erzählte Liz mir, sie hätte nicht gut geschlafen, weil sie über unsere Lage nachgedacht hatte. Es war durchaus möglich, sagte sie, dass Mom uns, aus was für Gründen auch immer, bis zum Ende des Sommers nicht nachkommen lassen konnte. Das bedeutete, dass wir hier in Byler zur Schule gehen würden. Wir wollten Onkel Tinsley, der sich offensichtlich in seinem Witwerdasein eingerichtet hatte, nicht zur Last fallen. Zwar wohnte er in einem großen Haus, und seine Familie war mal die vornehmste der Stadt gewesen, aber seine Hemdkragen waren zerschlissen, und er hatte Löcher in den Socken. Ganz offensichtlich würde sein knappes Budget nicht reichen, auch noch die zwei Nichten mitzuversorgen, die unangekündigt und uneingeladen vor seiner Tür gestanden hatten.
»Wir müssen uns Arbeit suchen«, sagte Liz.
Ich fand, das war eine tolle Idee. Wir konnten beide babysitten. Vielleicht könnte ich auch wieder
Grit
ausliefern, wie ich das in Lost Lake gemacht hatte. Wir konnten Rasen mähen oder Äste in den Gärten der Leute aufsammeln. Vielleicht würden wir sogar Jobs als Kassiererinnen im Lebensmittelladen bekommen, oder wir konnten Regale auffüllen.
Beim Frühstück erläuterten wir Onkel Tinsley unseren Plan. Wir dachten, er wäre von der Idee begeistert, doch sobald Liz damit anfing, winkte er ab, als wäre das Ganze völlig ausgeschlossen. »Ihr Mädchen seid Holladays«, sagte er. »Ihr könnt hier nicht rumlaufen und um Arbeit betteln wie zwei Tagelöhner.« Er senkte die Stimme. »Oder Farbige«, fügte er hinzu. »Mutter würde sich im Grab umdrehen.«
Nach Onkel Tinsleys Meinung mussten Mädchen aus guten Familien Disziplin, Verantwortungsgefühl für sich selbst und ihre Gemeinde lernen, und das ging nur, wenn sie sich in der Kirche oder als Freiwillige im Krankenhaus engagierten. »Holladays arbeiten nicht für andere Leute«, sagte er. »Andere Leute arbeiten für die Holladays.«
»Aber vielleicht sind wir noch hier, wenn das neue Schuljahr anfängt«, sagte Liz.
»Das ist durchaus möglich«, sagte Onkel Tinsley. »Und ich hätte nichts dagegen. Wir sind alle Holladays.«
»Dann brauchen wir aber Anziehsachen für die Schule«, stellte ich klar.
»Anziehsachen?«, echote er. »Ihr braucht Sachen zum Anziehen? Wir haben hier alles, was ihr braucht. Kommt mal mit.«
Onkel Tinsley führte uns die Treppe hinauf in die kleinen Dienstmädchenzimmer unterm Dach und öffnete muffige Koffer und zedernholzverkleidete Schränke voller Anziehsachen, die nach Mottenkugeln rochen: Mäntel mit Pelzkragen, gepunktete Kleider, Tweedjacken, seidige Rüschenblusen, knielange, karierte Faltenröcke.
»Die Sachen sind von allerbester Qualität, handgeschneidert, Importware aus England und Frankreich«, sagte er.
»Aber Onkel Tinsley«, sagte ich. »Die sind ziemlich altmodisch. Solche Sachen trägt man heute nicht mehr.«
»Und das ist jammerschade«, sagte er. »So was Hochwertiges wird gar nicht mehr hergestellt. Heutzutage gibt’s nur noch Bluejeans und Polyesterzeug. Ich hab mein Lebtag noch keine Bluejeans angezogen. Malocherhosen.«
»Aber die trägt doch jeder«, sagte ich. »Alle tragen Bluejeans.«
»Und deshalb müssen wir Arbeit finden«, sagte Liz. »Damit wir uns welche kaufen können.«
»Wir brauchen Taschengeld«, sagte ich.
»Was die Leute sich nicht alles einbilden zu brauchen, das sie in Wahrheit gar nicht benötigen«, sagte Onkel Tinsley. »Wenn’s irgendwas gibt, was ihr wirklich haben müsst, können wir drüber reden. Aber ihr braucht keine neuen Sachen zum Anziehen. Wir haben genug hier.«
»Soll das heißen, wir dürfen uns keine Arbeit suchen?«, fragte Liz.
»Wenn ihr keine neuen Sachen benötigt, braucht ihr auch keine Arbeit.« Onkel Tinsleys Gesichtsausdruck wurde weicher. »Und jetzt ab mit
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