Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
euch nach draußen. Ich muss mich wieder auf meine Forschung konzentrieren. Nehmt die Fahrräder, fahrt in die Stadt, geht in die Bibliothek, schließt Freundschaften, tut was Sinnvolles. Aber vergesst nicht, ihr seid Holladays.«
Liz und ich gingen rüber zur Scheune. Die letzten Tage war es sehr heiß gewesen, aber am frühen Morgen hatte ein erfrischender Regenguss die Luft abgekühlt, und die schlaffen Sommerfliederbüsche waren zu neuem Leben erwacht.
»Onkel Tinsley hat keine Ahnung«, sagte Liz. »Wir müssen uns Jobs suchen. Und nicht bloß, um Klamotten zu kaufen. Wir brauchen unser eigenes Geld.«
»Aber dann wird Onkel Tinsley böse.«
»Ich denke, er hat eigentlich nichts dagegen, wenn wir uns Arbeit suchen«, sagte Liz. »Er will es nur nicht wissen. Er will so tun können, als lebten wir immer noch in der guten alten Zeit.«
Onkel Tinsley hatte den kaputten Reifen an seinem alten Kinderrad geflickt. Es war ein Schwinn, genau wie Moms, nur dass es ein Jungenrad war, blau, mit Vorderlicht und Satteltasche. Liz und ich holten die Fahrräder aus der Garage und fuhren in die Stadt, um uns Arbeit zu suchen.
Wir hatten nicht mehr daran gedacht, dass es der vierte Juli war, Nationalfeiertag. Die Festparade ging gerade los, und auf beiden Seiten der Holladay Avenue drängten sich Menschen. Ganze Familien saßen auf Klappstühlen oder auf dem Bordstein, aßen Eis am Stiel, schirmten die Augen gegen die grelle Sonne ab und winkten begeistert, als die Musikkapelle der Byler Highschool in rot-weißen Uniformen vorbeimarschierte. Dahinter kamen Pompons schwenkende Cheerleaderinnen, Majoretten, die ihre Batons wirbeln ließen, rotbejackte Fuchsjäger zu Pferd, ein Feuerwehrauto und ein Umzugswagen mit winkenden Frauen in verschlissenen, paillettenbesetzten Abendkleidern. Zum Schluss bog eine Gruppe älterer Männer in unterschiedlichen Militäruniformen auf die Holladay Avenue. Alle sahen sehr ernst und stolz aus, und die in der ersten Reihe trugen mit beiden Händen große amerikanische Fahnen vor sich her. Genau in der Mitte dieser Gruppe war Onkel Clarence. Er hatte eine grüne Uniform an und bewegte sich steifbeinig und ein bisschen kurzatmig, hielt aber mit den anderen Schritt. Als die Fahnen vorbeikamen, standen die meisten Zuschauer auf und salutierten.
»Feine Patrioten«, flüsterte Liz in dem sarkastischen Tonfall, den sie sich von Mom angewöhnt hatte.
Ich sagte nichts. Seit Jahren hatte Mom, die auf Antikriegsdemos gegangen war, wo Demonstranten Fahnen verbrannt hatten, uns wieder und wieder aufgezählt, was alles mit Amerika nicht stimmte – der Krieg, die Diskriminierung, die Gewalt –, aber hier zeigten alle, einschließlich Onkel Clarence, echten Stolz auf die Fahne und das Land. Wer hatte recht? Beide Seiten hatten ihre Argumente. Vielleicht hatten ja beide recht. Konnte etwas vollkommen richtig und vollkommen falsch sein? Liz schien das zu glauben. Ich hatte normalerweise ziemlich feste Ansichten, aber jetzt war ich mir nicht mehr sicher. Die Sache war kompliziert.
Als die Parade vorbeigezogen war, klappten die Leute ihre Stühle zusammen und verteilten sich auf der Holladay Avenue. Wir schoben unsere Räder durch die Menge. Ein Stück vor uns sahen wir die Wyatts die Straße herunterkommen. Joe trug Earl, der ein Fähnchen hielt. Onkel Clarence hatte Orden über der Brusttasche seiner grünen Uniform, und auf dem Kopf hatte er so eine knappe Armeemütze mit Abzeichen und Anstecknadeln an beiden Seiten.
»Ich liebe unseren Unabhängigkeitstag«, sagte Tante Al, nachdem sie uns beide umarmt hatte. »Da wird einem wieder klar, was für ein Glück wir haben, hier zu leben. Wenn mein Truman wieder zu Hause ist, marschiert er gleich neben Clarence in der Parade mit.«
»Aber er überlegt, sich noch mal zu verpflichten«, sagte Joe.
»Wieso das denn?«, fragte Liz. »Wir sind dabei, den Krieg zu verlieren.«
»Wir verlieren den Krieg hier zu Hause wegen all dieser gottverdammten Drückeberger von Demonstranten«, sagte Onkel Clarence. »Wir sind nicht dabei, den Krieg da drüben zu verlieren. Unsere Jungs suchen noch nach der richtigen Strategie. Die machen ihre Sache verdammt gut. Das hat Truman selbst gesagt.« Er machte auf dem Absatz kehrt und stakste von dannen.
»Ich wollte ihn nicht verärgern«, sagte Liz. »Ich dachte, jeder weiß, dass wir nicht gewinnen können.«
Wir gingen alle zusammen die Holladay Avenue herunter Richtung Weberhügel. »Jeder hat seine eigene
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