Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)
Außerdem fand sie es schön, dass Liz den Schluss einer Geschichte abänderte, wenn Cindy ihn zu traurig fand, wodurch das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern bei ihr überlebte, anstatt zu erfrieren, oder der einbeinige Zinnsoldat und die Papiertänzerin gerettet wurden, anstatt im Feuer zu enden.
Cindy konnte zwar selbst lesen, hatte aber keine Freude daran, und Doris wollte, dass ich ihrer Tochter Nachhilfe gab. Eines Tages ließ ich sie laut aus
Frühling des Lebens
vorlesen. Sie schaffte ein paar Kapitel ganz ordentlich, aber als ich sie fragte, was sie davon hielt, brachte sie kein Wort heraus. Ich stellte ihr ein paar weitere Fragen, doch sie hatte offensichtlich kein Fitzelchen von dem verstanden, was sie gerade gelesen hatte. Die einzelnen Wörter bereiteten ihr keine Schwierigkeiten, aber sie hatten für sie keine Bedeutung, da sie sie nicht aneinanderfügen konnte. Sie behandelte die Wörter wie ihr Essen, hielt sie fein säuberlich getrennt.
Ich war gerade dabei, Cindy zu erklären, dass Wörter im Zusammenhang einen Sinn ergaben – dass die Birne am Baum eben nicht dasselbe war wie die Birne in der Lampe –, als ich hörte, wie Mr Maddox im Schlafzimmer Doris anschrie. Er regte sich auf, sie bräuchte keine neuen Sachen. Wem sie denn gefallen wollte? Oder versuchte sie etwa, jemanden zu verführen? Ich sah Cindy an, die so tat, als würde sie nichts hören.
Mr Maddox kam mit einem Pappkarton ins Wohnzimmer und drückte ihn mir in die Hand. »Bring den in den Le Mans«, sagte er.
In dem Karton waren Doris’drei verwaschene Hängekleider und ihr einziges Paar Schuhe. Doris kam in ihrem Nachthemd aus dem Schlafzimmer. »Das sind meine Sachen«, sagte sie. »Ich hab sonst nichts zum Anziehen.«
»Das sind nicht deine Sachen«, widersprach Mr Maddox. »Das sind die Sachen von Jerry Maddox. Wer hat sie gekauft? Jerry Maddox. Wer hat sich abgeschuftet, um sie zu bezahlen? Jerry Maddox. Also wem gehören sie?«
»Jerry Maddox«, sagte Doris.
»Genau. Du trägst sie nur, wenn ich das will. Die sind wie das Haus hier.« Er machte eine ausladende Armbewegung. »Wem gehört es? Jerry Maddox. Aber ich lass dich hier wohnen.« Er drehte sich zu mir um. »Jetzt bring den Karton ins Auto.«
Ich hatte das Gefühl, irgendwie zwischen die Fronten geraten zu sein. Ich arbeitete ja hauptsächlich für Doris, deshalb schielte ich zu ihr rüber, um zu sehen, was sie von mir erwartete, und rechnete halb damit, sie würde sagen, ich solle ihr den Karton geben. Aber sie stand einfach nur da und sah fix und fertig aus, also trug ich den Karton raus zu dem Carport und stellte ihn auf die Rückbank des Le Mans.
Als ich die Wagentür schloss, trat Mr Maddox aus dem Haus. »Du denkst, ich war zu hart zu Doris, nicht wahr?«, sagte er. »Nicht ohne Grund. Sie ist ein Mensch, der immer mal wieder gemaßregelt werden muss.« Doris wär ein heißer Feger gewesen, als er sie kennenlernte, erklärte Mr Maddox. Sie trug zu viel Make-up, ihre Röcke waren viel zu kurz, und sie ließ sich von Männern ausnutzen. »Ich musste einschreiten und sie vor sich selbst schützen. Das ist bis heute so. Wenn ich sie jedes Mal ausgehen ließe, wenn ihr danach ist, würde sie wieder genauso, wie sie mal war. Ohne ihre Kleider kann sie nicht ausgehen. Wenn sie nicht ausgehen kann, kann sie sich nicht in Schwierigkeiten bringen. Ich bin nicht gemein. Ich tue das zu ihrem eigenen Besten. Verstehst du?«
Er sah mich mit diesem intensiven starren Blick an. Ich nickte bloß.
18
M r Maddox hatte gesagt, die nächsten paar Tage müsste ich nicht für Doris arbeiten, aber Liz sollte kommen, also radelte ich am nächsten Morgen auf meinem Schwinn rüber zu den Wyatts, um zu sehen, ob Joe vielleicht Lust hatte, ein bisschen Obst vorm Umkommen zu retten.
Joe war noch beim Frühstück. Tante Al machte mir auch einen Teller zurecht – Milchbrötchen mit Bratensoße und dazu in Speck gebratene Eier, so knusprig wie Pommes frites. Sie goss Joe eine Tasse Kaffee ein. Er trank ihn schwarz, und Tante Al fragte, ob ich auch eine Tasse wolle.
»Igitt«, sagte ich. »Kinder trinken keinen Kaffee.«
»Bei uns schon«, sagte Joe.
Tante Al stellte mir eine Tasse Milch hin, gab einen Schuss Kaffee und zwei gehäufte Teelöffel Zucker hinein. »Probier mal«, sagte sie.
Ich nippte daran. Die Milch und der Zucker nahmen dem Kaffee den bitteren Geschmack, weshalb er wie Brause mit einem kleinen Schuss schmeckte.
»Habt ihr beide Arbeit
Weitere Kostenlose Bücher