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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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immer die schlechtesten Jobs. Das wahre Problem, so meinten sie, wäre die Angst der Weißen davor, dass die Schwarzen die besseren Sportler und Musiker waren. Sie wollten, dass die Schwarzen den Mund hielten, aufhörten, für ihre Rechte zu kämpfen, und sich damit begnügten, für die Weißen die Klos zu putzen, die Klamotten zu waschen und das Essen zu kochen.
    »Tja, wir werden das Problem nicht an einem Tag lösen können«, sagte Miss Jarvis. Stattdessen, so sagte sie, sollten wir ein Buch über einen Rassenkonflikt in einer Kleinstadt in den Südstaaten lesen. Es hieß
Wer die Nachtigall stört.
     
    Ich mochte
Wer die Nachtigall stört,
aber anders als Miss Jarvis fand ich nicht, dass es das wunderbarste Buch aller Zeiten war. Am besten gefielen mir die Abschnitte, wo es nicht um Rassismus ging, sondern wo Scout und die beiden Jungs um das große Spukhaus herumschlichen, in dem der unheimliche Einsiedler wohnte. Das erinnerte mich wirklich an mich, als ich klein war.
    Obwohl Miss Jarvis das Buch als große Literatur rühmte, hatten viele in der Klasse Probleme damit. Die weißen Schüler meinten, sie wüssten, dass Schwarze nicht gelyncht werden sollten, und sie brauchten kein Buch, das ihnen das einbläute. Manche störten sich daran, dass das Buch die Stadt in gute ehrbare Weiße und böse verkommene Weiße unterteilte. Die schwarzen Schüler wiederum fragten sich, wieso der Held des Buches ein edler Weißer sein musste, der versuchte, einen hilflosen Schwarzen zu retten, und warum der Anführer des Lynchmobs von dem edlen Weißen als ein Mann beschrieben wurde, der im Grunde anständig war, nur eben nicht mehr klar denken konnte, wenn es darum ging, unschuldige Schwarze aufzuhängen. Außerdem gefiel ihnen nicht, dass alle guten Schwarzen schön unterwürfig waren und ihre Kinder aufstehen ließen, wenn der edle Weiße vorbeikam. Dieses Ja-Sir-nein-Sir-Getue ging ihnen gegen den Strich.
    »Keiner lehnt sich mal richtig gegen die Verhältnisse auf«, sagte Vanessa.
    »Diese Diskussion läuft anders, als ich erwartet hatte«, sagte Miss Jarvis und forderte uns auf, unsere Gedanken zu Papier bringen.
     
    Als ich Onkel Tinsley von unserer Hausaufgabe erzählte, leuchteten seine Augen auf. »
Wer die Nachtigall stört
ist auf seine Art ein gutes Buch«, sagte er. »Aber wenn du die Rassenverhältnisse in den Südstaaten wirklich verstehen willst, musst du den großen Historiker C. Vann Woodward lesen.«
    Onkel Tinsley saß an seinem Schreibtisch in der Bibliothek. Er zog ein Buch aus dem wandhohen Bücherregal und drückte es mir in die Hand. Es war von diesem Mr Woodward und befasste sich mit der Geschichte der Rassentrennung.
    Ich fing an, es zu lesen, doch weil es so kompliziert geschrieben war, blieb ich schon auf der ersten Seite hängen. Onkel Tinsley nahm es mir wieder weg und blätterte darin herum, erklärte mir eifrig die Grundgedanken und zitierte Sätze, während ich mir Notizen machte.
    Weil die Schwarzen und Weißen im Süden zur Zeit der Sklaverei eng zusammengelebt hatten, sagte Onkel Tinsley, kamen sie nach dem Bürgerkrieg besser miteinander aus als die Schwarzen und Weißen im Norden, die mehr auf Distanz zueinander geblieben waren. Die gesetzliche Rassentrennung begann im Norden, und es war heuchlerisch von den Nordstaaten, alles dem Süden in die Schuhe zu schieben. Im Süden wurden die ersten Rassengesetze erst um die Jahrhundertwende erlassen. Um diese Zeit nutzten Außenstehende etwas aus, was C. Vann Woodward als »Negrophobie« bezeichnete, und hetzten arme Weiße gegen arme Schwarze auf, wo die beiden Gruppen doch eigentlich natürliche Verbündete hätten sein müssen.
    Onkel Tinsley half mir, das Referat zu schreiben – im Grunde diktierte er mir große Teile davon –, und dann musste ich es ihm vorlesen. Nach ein paar Sätzen unterbrach er mich. Mein Vortrag müsste leidenschaftlicher werden, meinte er. Er war an der Uni in der Theatergruppe gewesen, und er zeigte mir, wie man effektvoll gestikulierte und Pausen einlegte, die er Kunstpausen nannte.
    Als ich am nächsten Tag mit meinem Referat an die Reihe kam, wusste ich nicht, ob das, was ich mit Onkel Tinsleys Hilfe geschrieben hatte, für die Klasse interessant oder überhaupt verständlich sein würde – ich hatte es ja selbst kaum verstanden –, und deshalb flatterte mir vor Nervosität das Blatt in der Hand. Dass Onkel Tinsley mich dazu gebracht hatte, komplizierte Wörter und Ausdrücke wie »Bürde des weißen

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