Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
Vom Netzwerk:
Mannes« und »Negrophobie« einzubauen, machte die Sache auch nicht leichter.
    Ich versuchte, so zu gestikulieren, wie er es mir gezeigt hatte, aber das mit den Kunstpausen vergaß ich völlig. Stattdessen las ich, so schnell ich konnte, und fuchtelte hektisch herum. Als ich fertig war, schaute ich auf. Manche Schüler tuschelten oder malten Männchen, aber ein paar grinsten. Die meisten blickten verwirrt.
    Tinky Brewster meldete sich. »Was ist denn ›Negrophobie‹?«, fragte er.
    »Auch wenn du’s noch nie gehört hast, ist doch klar, dass das ein hochgestochenes Wort für Leute ist, die was gegen Schwarze haben«, antwortete Vanessa aus der letzten Reihe. »Bean, du bist ein echt durchgeknalltes weißes Mädchen.«
    Die ganze Klasse prustete los.
    »Na, na, Vanessa«, sagte Miss Jarvis zuerst noch ganz lehrerhaft, schlug aber dann mit Blick auf die Klasse einen anderen Ton an. »Tja, wenigstens haben wir endlich etwas gefunden, in dem wir uns alle einig sind.«

30
    A ls Liz und ich eines Nachmittags den Dachboden  durchstöberten, Koffer und Truhen öffneten und nachschauten, was drin war, entdeckten wir eine alte Gitarre. Mäuse hatten den Hals angenagt, aber Liz fummelte ein bisschen an den Stimmwirbeln rum und erklärte, der Klang wäre gar nicht so schlecht. Als wir sie mit nach unten nahmen, erzählte Onkel Tinsley uns, dass das Moms erste Gitarre gewesen sei, aus der Zeit, als sie etwa in Liz’ Alter gewesen war und beschlossen hatte, Folksängerin zu werden. Liz brachte die Gitarre in einen Musikladen in der Stadt, wo der Verkäufer neue Saiten aufzog und sie stimmte. Von da an verbrachte sie ganze Nachmittage oben im Vogeltrakt und spielte darauf herum.
    Mom hatte versucht, uns beiden Gitarrespielen beizubringen. Ich war ein hoffnungsloser Fall. Vollkommen unmusikalisch, sagte Mom. Liz dagegen ließ echtes Talent erkennen, aber sie konnte keine Kritik vertragen, und Mom erzählte ihr dauernd, was sie falsch machte, und schob ihre Finger an die richtigen Stellen. Große Musiker würden sich über Regeln hinwegsetzen, sagte Mom, aber ehe man sich darüber hinwegsetzen konnte, musste man sie erst einmal lernen, deshalb bedrängte sie Liz immerzu, sie sollte üben, und schließlich sagte Liz: »Mir reicht’s.«
    Jetzt, wo Mom nicht da war, um ihr über die Schulter zu schauen, machte es Liz Spaß, Noten und Akkorde zu suchen, die Songs im Radio zu begleiten und herauszufinden, was gut klang und was nicht, ohne dass sich jemand immer gleich aufregte, wenn sie mal einen falschen Ton traf.
    Nach einer Weile beschloss Liz, dass sie eine Gitarre brauchte, die in einem besseren Zustand war. Der Musikladen in Byler hatte eine gebrauchte Silvertone im Schaufenster, die 110  Dollar kosten sollte – ein Schnäppchen, sagte der Verkäufer –, und Liz gedachte, sie mit dem Geld von ihrem Sparkonto zu kaufen. Seit der Achselhöhlengeschichte hatte ich Mr Maddox so gut es ging gemieden und nicht mehr so oft bei ihm gearbeitet, aber Liz machte noch immer für ihn die Ablage und sonstige Büroarbeiten, und sie hatte mittlerweile fast zweihundert Dollar auf dem Sparbuch.
    An einem Montagnachmittag im November, kurz nach meinem »Negrophobie-Referat«, wie die ganze Klasse es inzwischen nannte, fuhr Liz mit dem Fahrrad in die Stadt, um zur Bank zu gehen, das Geld abzuheben und mit der Gitarre nach Hause zu kommen. Die Gitarre hatte einen Riemen, und sie würde sie sich auf dem Heimweg über den Rücken hängen. Sie war richtig aufgeregt.
     
    Sobald es dämmerte, wurde es so kalt, dass man seine eigene Atemluft sehen konnte. Ich hatte eine dunkelblaue Kapitänsjacke von Mom angezogen, die ich auf dem Dachboden gefunden hatte und die im Gegensatz zu den anderen Klamotten nicht total altmodisch aussah, und harkte vor dem Haus Laub zu großen Haufen zusammen, in die man reinspringen konnte, als Liz die Einfahrt hochgeradelt kam. Sie hatte die Gitarre nicht dabei.
    »Was ist passiert?«, fragte ich. »War sie schon verkauft?«
    »Mein Geld war nicht auf dem Konto«, sagte Liz. »Mr Maddox hat es abgehoben.«
    Sie stellte das Fahrrad unter das Vordach für die Kutschen, und wir setzten uns auf die Verandastufen. Von der Bank war sie direkt zu den Maddox gefahren, um herauszufinden, was zum Teufel mit ihrem Geld passiert war. Mr Maddox erklärte ihr, dass er das Geld von ihrem Konto abgehoben hatte, weil der Zinssatz so niedrig war, und es stattdessen in Staatsanleihen investiert hatte, die sehr viel höhere Zinsen

Weitere Kostenlose Bücher