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Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition)

Titel: Die andere Seite des Himmels: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeannette Walls
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fehlt noch der letzte Pfiff«, sagte er. »Wo ist Liz?«
    »Sie hatte noch was zu erledigen. Müsste aber bald zurück sein.«
    »Ach so«, sagte Onkel Tinsley. Er goss etwas Essig in den Topf und fing an, das Ragout auf Teller zu verteilen.
    Ich trug das Essen zum Tisch. Nachdem er sein übliches Tischgebet gesprochen und ein paar Bissen gegessen hatte, legte Onkel Tinsley seinen Löffel hin. »Was?«, fragte er.
    »Wie was?«
    »Du hast gesagt, Liz hätte noch was zu erledigen. Was genau?« Er betrachtete mich aufmerksam.
    Ich starrte auf meinen Löffel, überlegte, was ich sagen sollte. »Irgendwas halt, du weißt schon.«
    »Nein, weiß ich nicht.«
    »Erledigungen und so.«
    »Bean, du bist eine miserable Lügnerin. Absolut miserabel. Deine Augen huschen die ganze Zeit herum. Jetzt sieh mich an und sag mir, wo Liz ist.«
    Ich hob den Blick und spürte, wie meine Unterlippe bebte.
    »Schon gut, ich glaube, ich weiß es auch so. Seit ihr hier seid, hab ich euch nur zwei Dinge untersagt. Das erste war, ihr solltet euch keinen Job suchen, und ihr habt’s trotzdem getan. Das zweite war, Liz solle nicht versuchen, das Geld zurückzubekommen, und gleich am nächsten Tag zieht sie los, um genau das zu tun!«
    »Bitte sei nicht böse auf uns, Onkel Tinsley! Liz wollte einfach nur ihr Geld wiederhaben. Es gehört ihr doch. Und bitte schmeiß uns nicht raus!«
    »Ich schmeiß euch nicht raus, Bean«, sagte Onkel Tinsley. »Jetzt müssen wir erst einmal abwarten, was sie dazu zu sagen hat.«
    Von da an sah Onkel Tinsley immer wieder auf seine Uhr. »Es ist schon spät«, sagte er irgendwann. »Um diese Uhrzeit sollte sie wirklich nicht mehr draußen sein.« Wenige Minuten später sagte er: »Das Mädchen kriegt Hausarrest, bis es alt und grau ist.« Er fügte hinzu. »Eigentlich hätte sie eine gute altmodische Tracht Prügel verdient.«
     
    Wir waren dabei, unsere Teller abzuspülen, da hörten wir ein Klopfen an der Tür. Ich rannte hin, um nachzusehen, wer es war, und schaltete das Verandalicht an. Als ich die Tür aufmachte, stand da ein fremder Mann, der einen Arm um Liz gelegt hatte. Sie weinte. Ihre Augen waren verquollen und rot, sie hatte Blutergüsse auf der Wange und am Kinn, und ihre Bluse war zerrissen. Sie starrte nach unten, hielt einen Cola-Becher mit beiden Händen und saugte an einem Strohhalm, aber der Becher war leer, und die Eiswürfel darin klapperten.
    »Liz?«, sagte ich. Sie sah nicht auf, und als ich versuchte, sie zu umarmen, wich sie zurück.
    Onkel Tinsley war hinter mich getreten. »Was ist hier los?«, fragte er.
    »Mr Holladay, ich hab nicht gewusst, dass sie Ihre Nichte ist«, sagte der Mann. Er war spindeldürr, hatte schwarzes Haar und einen Schnurrbart, und er trug eine blaue Handwerkerjacke, auf deren Brusttasche der Name Wayne eingestickt war. »Was da passiert ist, war nicht recht, Mr Holladay.«
    »Was ist denn passiert?«
    Wayne erklärte, dass er in einer Autowerkstatt beschäftigt sei, aber nebenbei gelegentlich als Fahrer arbeitete, weil es in Byler kaum Taxis gab. Jerry Maddox engagierte ihn manchmal, obwohl er den schicken Le Mans hatte, aber er ließe sich gern zu Geschäftsterminen fahren, als wäre er ein hohes Tier mit eigenem Chauffeur. »Mr Maddox meint, das erhöht die Ausstrahlung.«
    »Kommen Sie zur Sache, Wayne.«
    Wayne war am späten Nachmittag in der Werkstatt gewesen, als Mr Maddox mit dieser jungen Dame angefahren kam. Er sagte, der Vergaser am Le Mans mache Zicken, aber er müsse zu einigen wichtigen Terminen und wolle, dass Wayne ihn und das Mädchen fahre. Während sie in den Wagen stiegen, hätte Mr Maddox ihn beiseitegenommen und gesagt, das Mädchen wäre eine Nutte, und vielleicht würde er sich zwischen den Terminen ein bisschen auf der Rückbank verlustieren.
    »Großer Gott!«, sagte Onkel Tinsley.
    Sie waren also losgefahren, kreuz und quer durch die Stadt, erzählte Wayne, und er und das Mädchen warteten im Wagen, wenn Mr Maddox ausstieg und irgendwo reinging. Es wurde immer später, und schließlich fing das Mädchen an, sich bei Mr Maddox zu beschweren, dass sie kein Geld bekommen hatte. Sie sagte so Sachen wie: »Es ist mein Geld, ich hab’s mir verdient!« Mr Maddox sagte ihr immer wieder, sie würde das Geld bekommen, aber zuerst müsste sie machen, was er wollte. Wayne dachte, da würden bloß eine Nutte und ihr Freier um den Preis feilschen. Die Auseinandersetzung wurde hitziger, das Mädchen immer lauter und zorniger. Und dann sah

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