Die Anderen - Das Erbe erwacht (German Edition)
Wenn er die Augen kurzschloss, waren die Tränen sofort wieder da, brannten sich ätzend ihren Weg in seine Augen, legten neue, salzige Spuren über seine juckenden Wangen.
Wie viele Tränen konnte ein Mensch vergießen? Vertrocknete man dabei irgendwann, wenn die letzte Träne, das letzte bisschen Feuchtigkeit aus dem Körper geweint war? Sollte nicht irgendwann Schluss sein?
Finns Stimme war längst verschwunden. Zu oft hatte er seinen Namen genannt, geflüstert, gerufen, schließlich gekrächzt, bis die Stimme heiser wurde und leiser, bis er ganz verstummt war. Er hatte keinen Atem mehr. Taub. Alles an ihm war taub und zu Eis erstarrt. Er konnte sich nicht bewegen, nicht denken, nicht fühlen. Trotzdem wütete der Schmerz unablässig in ihm. Sein Verstand folterte ihn mit Bildern, die beständig auftauchten, in einer endlosen Wiederholung: Daves Lächeln, seine Augen, seine Gestalt, wie er sich bewegte, eine Berührung seiner Hand, sein Duft, seine Stimme. Mit jedem Bild nahm der Schmerz ein wenig mehr zu, bis Finn das Gefühl hatte, sich darin zu verlieren, seinen Verstand zu verlieren. Vielleicht keine schlechte Idee.
Ein paar Mal hatte er sich zur Seite gedreht, seine Faust wieder und wieder auf den Boden geschlagen, bis die verkrusteten Stellen aufplatzten und bluteten, der physische den psychischen Schmerz kurzfristig überlagerte. Aber das half nicht lange genug. Schließlich baute Finn einen inneren Schutzwall auf, schloss seinen Verstand kategorisch aus.
Weg mit den ganzen Fragen!
Finns Selbst zog sich hinter den Wall zurück und kauerte sich in einer dunklen Ecke zusammen, einem Kind gleich, welches sich versteckt. Nichts hören, nichts sehen, nichts fühlen. Nicht mehr denken, nicht mehr leben.
Sein Gesicht war verquollen, fühlte sich ungewohnt unförmig an. Finn fror und ab und an drang sogar der Schmerz von seinen aufgeplatzten Fäusten und den Striemen an seinem Rücken zu ihm durch. Trotzdem war er außerstande, sich zu erheben. Wenn er sich bewegte, bestand die Gefahr, dass die Welt sich womöglich weiter drehen würde. Wenn er aufstand, ins Badezimmer ging, dann würde real werden, was er noch versuchte zu verleugnen. Er würde weiter leben, banale Dinge tun, essen, trinken, funktionieren und lernen zu vergessen. Zeit heilt alle Wunden, hieß es doch.
Aber das wollte Finn gar nicht. Wenn er hier liegen blieb, schien auch die Zeit stillzustehen. Dann konnte er seiner inneren Stimme glauben, die ihm versicherte, dass er irgendwann einfach hieraus aufwachen würde und nur geträumt hatte. Dann konnte er glauben, dass Dave noch da war ... bei ihm.
Finns Verstand wusste es natürlich besser. Er versuchte ununterbrochen, den massiven Schutzwall aus Taubheit zu durchbrechen und Finn von der Kante des bedrohlich nah schwebenden Wahnsinns zurückzuholen, zurück in die grausame Realität, in der er Dave gefunden und verloren hatte.
Der Schutzwall war stark und hielt lange stand, doch der Verstand war hartnäckig.
Schmerz.
Das alles bestimmende Gefühl. Es schmerzte, es schmerzte so sehr. Das „Warum?“ hallte in Finns Kopf wie ein Echo in einer schmalen Schlucht. Warum? Das Wort wanderte von einer Felswand zur anderen, wurde zurückgeworfen, nie verlöschend, ohne je eine Antwort zu erhalten.
Immer drängender flüsterte Finns Verstand im Hintergrund, versuchte verzweifelt, ihn zu erreichen, bombardierte den Schutzwall mit einem ständigen Dauerfeuer aus Erklärungen und Vorwürfen: Dave wollte nichts weiter von dir. Nur Sex. Er wollte nur sein Vergnügen. Du warst gerade mal gut genug für ein Wochenende. Ja, er hat sich um dich gekümmert, weil du plötzlich krank warst. Vielleicht hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er dich so rangenommen hat, vermutete Finns Verstand. Letztlich lief es aber auch dabei nur auf Sex hinaus, oder? Du warst naiv, süchtig nach Liebe und Sex und bist voll auf ihn reingefallen. Du hast ja von Anfang an mitgemacht, hast dich ihm sofort hingegeben. Du warst so versessen darauf, mit ihm ins Bett zu gehen, was hast du denn erwartet? Dass dieser Mann, der jeden, wirklich jeden, haben kann, es bei dir, bei DIR, ernst meinte? Finn, du warst so leicht zu bekommen, wie ein billiger Stricher. Hast du etwas anderes verdient?
Die innere Stimme patrouillierte am Schutzwall, warf dem Verstand gelegentlich ein Gegenargument an den Kopf, nur ging ihr bald schon die Munition aus.
Finns Schutzwall bröckelte, winzige Risse durchzogen seine Abwehr und der Verstand
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