Die Angst der Boesen
gar nicht um Lilly gekümmert. Er nahm sich vor, das nachzuholen. Nur durch ihren Einfluss auf Sven hatte sich dessen Mobbing gegen ihn bis zur Abschlussfahrt einigermaßen in Grenzen gehalten.
Also sagte er, so sanft er konnte: »Na, red schon! Was ist los? Weiß man jetzt, warum er’s gemacht hat?«
»Das hat er nicht«, schrie Lilly ihm ins Ohr.
Im gleichen Moment war im Hintergrund Krach zu hören: Hämmern und Trommeln, mehrere Stimmen, die durcheinanderredeten, jemand, der rief, sie solle endlich rauskommen.
»Wo bist du, Lilly?«
»Auf dem Klo. Und zwar schon ziemlich lange.«
»Verstehe.« Die Parallele zum letzten Abend der Abschlussfahrt war nicht zu übersehen. Würde Paul denn immer wieder an seinen dunkelsten Tag erinnert werden? Er verzog das Gesicht. Von seiner guten Laune war nichts mehr übrig.
»Mann, Tatjana nervt, dass ich rauskommen soll. Ich will aber nicht.«
»Lilly«, bat Paul ruhiger, als er war, »es ist besser, wenn du dich von ihr trösten lässt. Du kannst nachher auch zu mir kommen.«
Ein Schniefen war die Antwort.
»Und jetzt red Klartext! Sven …«
»… ist geschubst worden. Ermordet.«
Paul gab einen Überraschungslaut von sich. Dass das jemand gemacht haben sollte, fand er dann doch absolut erschreckend. Wie viele gewalttätige Irre gab es denn noch außer Sven?
»Sie wissen noch nicht, wer’s war«, sprach Lilly weiter, »aber die haben einen weglaufen sehen. Jetzt wird ermittelt. Kripo. Wie im Fernsehen. Die wollen uns alle befragen, glaub ich. Die haben schon wissen wollen, ob du irgendwie ... Weil du doch immer Streit mit Sven hattest ...«
»Ich?«, rief Paul, plötzlich extrem zornig. »Ich hab den Arsch nicht auf dem Gewissen.« Dann schaltete er das Handy aus, ohne Tschüss zu sagen.
32
Leon lachte still in sich hinein. Seine störrische Stiefschwester war schon eine Nummer für sich. Erst hockte Lilly eine halbe Ewigkeit in der Toilettenkabine und führte Telefonate – mit Paule und dann mit jemandem, der offenbar ihre Laune besserte, Leon tippte stark auf den Trainer – und dann stolzierte sie mit erhobenem Kopf heraus, das Gesicht verschmiert mit Wimperntusche, weil sie geheult hatte, aber trotzdem irgendwie gut drauf. Sie ignorierte die Fragen der Mitschüler, stellte sich an die Theke und forderte: »Gebt mir erst einen Cappuccino aus, dann erzähle ich euch alles.«
»Okay, aber schnell jetzt.« Ilkay, sonst wenig spendabel, knallte das Kleingeld für Lillys Kaffee auf die Theke.
Lilly blickte in die erwartungsvolle Runde, anscheinend ganz ruhig. »Er ist geschubst worden.«
Ilkay fluchte. »Ich hab’s geahnt.«
»Von wem, das ist noch nicht klar«, sagte Lilly. »Vielleicht hat ’s spontan Streit gegeben oder ...«
Ilkay beendete ihren Satz. »Es war geplant.«
»Ja.«
»Sven fängt doch mit jedem Streit an«, warf Leon ein und erntete zustimmendes Gemurmel.
Ilkay aber schien von einer vorsätzlichen Tat schon fast überzeugt zu sein. »Hat er euch eigentlich auch gesagt, dass er bedroht worden ist? Von einem Anrufer?«
»Hä?«, fragte Lilly, stutzte dann aber. »Doch, irgendwas war da.«
»Was genau? Wann?«
»Hab ich vergessen.«
»Bist du panne, ey, das kann man doch nicht vergessen«, rief Ilkay so aufgebracht, dass sie sich erschreckte und an dem Kaffee verschluckte.
»Wieso muss ich mir das merken, Ilkay, he? Sven hatte manchmal komische Momente. Er war Gott sei Dank nicht immer nur dumpf und doof. Er hat auch mal Gefühle gehabt und irgendwas hat ihn geplagt. Er hat mich ein paarmal ganz ernst gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass er vor jemandem Angst hat. Ja, das fing mit einem Anruf auf dem scheißneuen Handy an.«
»So viel wusste ich auch schon.«
»Was fragst du mich dann?«
Ilkay antwortete nicht. Leon konnte sehen, wie es in ihm arbeitete, und da dämmerte auch ihm etwas. Ganz dunkel war da eine Erinnerung – Sven, der sich auf einem Friedhof ein Handy einsteckt und sagt: »Das nehm ich jetzt schon mal als Anzahlung.«
»Du meinst doch nicht, Ilkay, dass das damit was zu tun hat«, sagte Tatjana. Ihr Gesicht war wie erstarrt. Ihre Hand griff nach Leons. Schwitzende Finger umklammerten seine. »Neuerdings reden alle wieder davon. Paul hat mich gestern auch darauf angesprochen. Der hat beim Arzt einen Bluttestmachen lassen. Er meinte, der Typ könnte Aids gehabt haben und vielleicht dabei draufgegangen sein.«
»Nee, das kann nicht sein, oder?«, fragte Leon erschrocken. Ihm war jetzt klar, worum’s
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