Die Angst der Boesen
hatte. Erst als sie sich schon nackt ausgezogen und mit dem Fuß die Wassertemperatur der vollen Badewanne geprüft hatte, bemerkte sie ihn. Angeblich hatte er nicht gehört, wie das Wasser eingelaufen war. Nicht mal, wie sie nach Hause gekommen und laut »Jemand da?« gerufen hatte, wollte er gehört haben, und auch nicht, wie sie den Hund gefüttert und die Musik in ihrem Zimmer aufgedreht hatte, wie sie die Kühlschranktür zugeknallt und die leere Flasche Badezusatz in hohem Bogen in den Mülleimer geworfen hatte.
Richie war einfach so auf sie zugekommen, als sie wie versteinert halb auf den Fliesen, halb in der Wanne gestanden hatte.
»Oh, hallo, schon zu Hause?«, hatte er scheinheilig gefragt, während seine Hand kurz, aber deutlich ihre linke Brust gestreift hatte.
Das war beim ersten Mal. Beim nächsten ...
Schluchzend biss sie sich auf ihre Finger.
31
Paul glaubte schon am Mittag, den aufregendsten Tag seines Lebens hinter sich zu haben. Nach seinem todesmutigen Auftritt vor der Schule und seinem Geständnis zu Hause war er sehr erleichtert über die Reaktion seiner Mutter. Zwar hatte sie nach den ersten Schlucken Sekt einen Weinkrampf bekommen, sich aber bald darauf wieder beruhigt und noch mal mit ihm angestoßen.
Aufgedreht, wie Paul war, hatte er danach zum Telefon gegriffen und Nicos Nummer gewählt. Nachdem er ihm stolz von seinem Coming-out erzählt hatte, hatte er Nico für den nächsten Tag zu sich eingeladen. Nico hatte sofort zugesagt.
Mit Sternchen in den Augen ging Paul ins Wohnzimmer zurück, ließ sich aufs Sofa plumpsen und hauchte: »Er kommt morgen.«
»Dann muss ich ja wohl mal zwei Stündchen spazieren gehen.« Seine Mutter gab ein Glucksen von sich, von dem Paul nicht wusste, ob es bedeutete, dass sie den Gedanken lustig fand oder erschreckend.
Er war selbst etwas erschrocken über sich und seine eigene Courage. Er wusste ja noch gar nicht, wie es mit Nico werden würde. Aber dann fielen ihm seine romantischen Vorstellungen wieder ein und er sagte: »Tja, hätten wir mal die Wohnung noch nicht vermietet.«
»Da sagst du was. Diese Sportskanone ist heute wieder den ganzen Tag unterwegs. Ich frag mich, was der macht. Bringt keine eigenen Möbel mit, sondern lebt in den alten Klüngeln, die dein Vater und ich dort abgestellt haben. Angeblich hat er sich von seiner Freundin getrennt und schreibt jetzt ein Buch. Wie ein Dichter wirkt er aber nicht. Er rennt immer nur draußen rum.«
Paul war mit den Gedanken ganz woanders und zuckte nur die Achseln. »Wer will bei dem Wetter schon Gedichte schreiben?«
»Vielleicht hast du recht. Aber der Typ ist eigenartig. Irgendwie weicht er mir aus.«
»Ist doch egal. Hauptsache, er zahlt pünktlich.«
Sein Handy klingelte.
»Schon wieder! Vor Erfindung dieser Geräte hatte man mehr Ruhe«, maulte seine Mutter.
Paul sah nach, wer dran war: Lilly , wer sonst.
»Ach was, Mama. So kann ich Lilly gleich die gute Nachricht erzählen. – Krokodilly«, flötete er ins Telefon, »es gibt Neuigkeiten.«
»Bei mir auch.« Lilly war schlecht drauf. Das war nicht zu überhören.
»Was denn?«, fragte er mit aufkommendem Unbehagen und ging mit dem Telefon in den kleinen Garten hinaus.
»Sven.«
»Was ist mit ihm?« Paul ärgerte sich, weil er spürte, wie seine gute Stimmung verflog. Sven Lange schaffte es, ihm noch als Toter den Tag zu versauen. Was trauerte Lilly dem so hinterher?
Besonders nervig war, dass sie jetzt keine Antwort gab, sondern nur leise ins Telefon schluchzte.
Paul wartete, zupfte Blätter von einem Strauch. Lilly ließ sich Zeit mit dem Weiterreden. Hoffentlich hatte sie nicht einfach nur wieder ihre verrückten fünf Minuten. Man wusste dann nie, was sie so trieb. Manchmal heulte sie nur, aber öfters steigerte sie sich auch in eine solche Wut auf sich und die Welt hinein, dass Gegenstände zu Bruch gingen oder sie sich selbst verletzte.
Einmal hatte er gesehen, wie sie einen Bilderrahmen mit einem Foto von ihr, ihrer Mutter und deren ExfreundRichie im Schlafzimmer ihrer Mutter entdeckt hatte. Sie hatte nicht gewusst, dass dieses Foto noch existierte, und hatte es zertrümmert. Als das Glas längst zerbrochen war, hatte Lilly immer noch mit dem zerfetzten Rahmen auf den Nachttisch ihrer Mutter eingedroschen. Dass die Splitter dabei ihre Haut aufrissen, schien sie nicht zu merken.
Plötzlich hatte Paul trotz seiner Verärgerung ein schlechtes Gewissen. In letzter Zeit hatte er nur an seine Probleme gedacht und sich fast
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