Die Angst der Boesen
Frau Hoffmann und dem Schulleiter. Beide verhielten sich jetzt still, aber sie kannten Svens schlechte Eigenschaften und hatten vorher sicher schon darüber berichtet.
»Er war mein Freund.«
»Ja«, sagte die Kommissarin, »aber es gab auch Leute, die ihn nicht mochten. Weil er ... ihnen vielleicht geschadet hat?«
»Kann sein.«
»Die Überwachungskamera war leider defekt. Die Bilder sind sehr schlecht, aber sie zeigen zumindest, dass Sven nicht allein an der S-Bahn-Haltestelle war. Leider haben wir keine Aufnahmen von dem hinteren Bahnsteigbereich, in dem er vor den Zug stürzte. Möglicherweise hat aber der Lokführer etwas beobachtet. Der Mann steht allerdings noch unter Schock. Wir hoffen, dass er sich an Einzelheiten erinnern wird.«
»Wollen Sie damit sagen, jemand hat Sven geschubst?« Lilly klappte den Mund auf. Die Vorstellung war ungeheuerlich, andererseits aber logisch. Warum war bisher niemand darauf gekommen?
»Das versuchen wir herauszufinden«, sagte Frau Steigers Kollege, der sich nicht mit Namen vorgestellt hatte.
Herr Lange, als hätte er erst jetzt begriffen, brüllte plötzlich los und hieb mit den Fäusten auf das Armaturenbrett des Autos ein.
»Tun Sie was! Schnappen Sie den Kerl!«
Der Polizist versuchte ihn zu beruhigen.
»Eine Theorie ist, dass es auf dem Bahnhof zu einem Streit zwischen Sven und dem anderen – vielleicht einem Jugendlichen – gekommen ist. In dessen Verlauf könnte Sven auf die Gleise gefallen oder tatsächlich gestoßen worden sein. Der andere hat die Folgen seines Tuns vielleicht gar nicht absehen können.« Die Worte der Kripobeamtin waren halb als Fragen formuliert, aber niemand gab eine Antwort.
Lilly fühlte sich einfach nur allein. Paul war geflüchtet, Sven war tot und Jan-Olli war auch nicht da. Nach dem gestrigen Abend hatte er sich nicht mehr bei ihr gemeldet, und das, obwohl sie ihm mehrere SMS geschickt und darin natürlich berichtet hatte, was passiert war. Sie schlang die Arme um ihren Körper, fror, obwohl es sommerlich warm war.
»Hatte Sven Feinde, Lilly?«
Sie sprach leise. »Wer hat die nicht?« Der eine hat Feinde, der andere keine Freunde, dachte sie und spürte Selbstmitleid in sich aufsteigen.
»In eurer Clique?« Frau Steiger machte mit dem Kopf einen Wink zum Eingang, wo versteckt von Buschwerk die Schülergruppe stand.
»Nein.«
»Bist du dir sicher? Könnte es nicht sein, dass jemand deinem Exfreund das angetan hat?«
Lilly ballte eine Hand zur Faust und steckte sie sich in den Mund.
»Meike, bald kommt die Psychologin«, sagte der Kripobeamte. »Vielleicht sollte sie sich zuerst um das Mädchen kümmern.«
»Ja, in Ordnung«, antwortete Frau Steiger kurz angebunden und wandte sich wieder an Lilly. Offenbar konnte sie keine Rücksicht darauf nehmen, wie Lilly mit der Neuigkeit zurechtkam. »Vielleicht kannst du mir das noch sagen, Lilly: Wie steht es mit diesem Jungen, von dem gerade die Rede war? Wie stand der zu Sven?« Sie zückte ihren Notizblock, las einen Namen ab. »Paul Brinker.«
»Das ist ja totaler Schwachsinn!« Laut und wild brachen die Worte aus Lilly heraus – Verwirrung, Wut, Enttäuschung, Schmerz und Trauer, alles auf einmal. In dem Moment konnte sie Svens Vater gut verstehen, sie hätte am liebsten auch auf irgendwas eingedroschen, fest und fester, bis alles kaputt war, der Gegenstand, die Hand, die Gefühle.
»Paul war immer das Opfer in der Klasse. Aber Paul könnte Sven nie geschubst haben. Dazu hat er gar keine Kraft und er ist auch viel zu harmlos und gutmütig. Sie dürfen ihn nicht beschuldigen. Immer beschuldigen Sie die Falschen. Außerdem: Paul war gestern Abend zu Hause. Wir haben noch telefoniert.«
Aufgewühlt stürmte sie davon. Sie wollte ihre Ruhe. Sie wehrte erst Frau Hoffmann ab, die ihr besorgt nachlief und behauptete, dass Lilly mit ihrer Trauer nicht allein sein dürfe, dann Ilkay, der wie eine Rakete hinter ihr herschoss, um zu erfahren, was sie mit der Kripobeamtin geredet hatte, und zuletzt Tatjana, die gerade erst die Zufahrtsstraße hochkam und sie begrüßen wollte.
Lilly floh ins Café gegenüber vom Schulgelände. Die einzige Toilette war zum Glück frei. Sie schloss sich ein, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Tür und schlug die Hände vors Gesicht.
Sven war also geschubst worden.
Wahrscheinlich war es passiert, weil Sven den Mörder nicht rechtzeitig gesehen hatte.
Auch sie hatte Richie damals nicht gesehen, als er sich im Badezimmer hinter dem Schrank versteckt
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