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Die Angst der Boesen

Die Angst der Boesen

Titel: Die Angst der Boesen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristina Dunker
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allein.«
    Lilly spürte, wie der Druck der Arme ihrer Mutter fester wurde.
    »Das bricht uns das Genick«, flüsterte sie. »Warum geht alles nur schief in unserem Leben?«
    Erst jetzt begriff Lilly richtig, was passiert war. Leon, ihr geliebter Bruder, war tot.
    Zwei unglaublich gute Jahre hatte Lilly Leon als Stiefbruder gehabt. Es war ein Glücksfall gewesen, dass damals sowohl ihre Mutter als auch Leons Vater zum Elternabend der achten Klasse gegangen waren. Alle anderen Eltern waren weggeblieben und so war die kleine Versammlung nach nur zwanzig Minuten zu Ende gewesen. Georg Kaulmann hatte Carola Rembecker gefragt, was sie noch mit dem angefangenen Abend vorhabe. Ihre Mutter war in der Nacht nicht Hause gekommen, sondern erst am frühen Morgen. Lilly erinnerte sich noch, wie sie sie geweckt und ihr mit Sternchen in den Augen ein Frühstück mit Orangensaft, Toast, Kaffee und Ei hingestellt hatte, was sie sonst nie tat.
    »Was ist los?«, hatte Lilly misstrauisch gefragt.
    »Ich liebe dich, mein Lillymädchen«, war die keineswegs beruhigende Antwort gewesen.
    Übellaunig und fest entschlossen auszuziehen, wenn wieder ein Ekeltyp dahintersteckte, war Lilly zur Schule gestapft. Sie erinnerte sich genau, dass sie überlegt hatte, Pauls Mutter zu fragen, ob sie bei ihnen wohnen dürfe, als Leon ihr auf dem Schulhof breit grinsend entgegenkam. »Rate mal, mit wem deine Mutter heute Nacht in der Kiste war?«
    Da hatte sie ihn noch blöd gefunden, albern, zurückgeblieben. Drei Monate später waren er und Georg samt Haustieren bei ihnen eingezogen. Seitdem hatte es häufiger Toast und Eier gegeben und dazu Sonntage, an denen die Erwachsenen nach dem Frühstück wieder im Bett verschwanden – sie beide blieben dann in der sonnenbeschienenen Küche sitzen und ließen sich Reptilien über die Hand krabbeln.
    Mit Leon und Georg war etwas Ruhe in Lillys Leben eingekehrt, ein Hauch von Normalität und Familie.
    Instinktiv wusste Lilly, dass das jetzt alles vorbei sein würde. Leon würde beerdigt und Georg würde nicht bleiben. Trauer hielt die Beziehung der beiden nicht aus. Ihre Mutter würde sich schnell wieder Männern wie Richie an den Hals werfen. Georg passte eh nicht so in ihr Beuteschema. Der Himmel hatte Leon und Georg nicht für ihre Mutter, sondern für Lilly geschickt. Aber das Glück war jetzt vorbei und der Abgrund tiefer als je zuvor.

Sonntag, 12. Juni
52
    Tatjana hätte lieber noch geschlafen. Nicht nur ein Stündchen länger, sondern den ganzen Tag lang, besser noch den ganzen Sommer über, der jetzt so leer und sinnlos vor ihr lag. Was sollte sie ohne Leon unternehmen? Wie sollte sie Spaß beim Baden im Kanal haben, wenn Leon nicht zu ihr geschwommen kam, sie nicht döppte, unter Wasser küsste oder seine Hände unter ihr Bikinioberteil schob? Wie sollte sie je wieder glücklich werden? Eis essen? Gemütlich einen Film gucken? Eine Zoohandlung betreten? Mit der Clique abhängen? Zur Schule gehen?
    Sie kniff die Augen zu, aber die Erinnerung an Leon, wie er blutüberströmt vorm Schultor gelegen hatte, mit dem gruselig flackernden Kerzenmeer dahinter, war zu übermächtig. Heiße Tränen rannen über ihr geschwollenes Gesicht, außerdem hatte sie furchtbare Kopfschmerzen. Noch einmal versuchte sie mit Macht, wieder einzuschlafen, aber es hatte keinen Sinn. Georg und Carola waren auch schon wach. Sie lärmten in der Küche.
    Tatjana seufzte und schwang die Beine über die Bettkante. Trotz der Sommersonne fröstelte sie. Sie hatte fast die ganze Nacht über gefroren, denn die Decke hatte Lilly irgendwann auf ihre Seite gezogen. Lilly schnarchte außerdem, worübersich Tatjana unter normalen Umständen lustig gemacht hätte. Jetzt fand sie alles nur noch furchtbar.
    Sie stand auf, ging in den Flur und sah zu Leons Zimmer hinüber. Lillys Mutter hatte vorgeschlagen, dass Tatjana dort schlafen sollte, aber sie hatte nicht gewollt. Sie wollte nicht allein sein und fand es zu traurig, im Zimmer ihres toten Freundes zu liegen. Durch die offene Tür sah sie das unbenutzte Bett, dahinter sein Terrarium und vorn auf dem Nachttischchen das schöne Foto von ihnen beiden, das bei einem Open-Air-Konzert aufgenommen worden war.
    Carolas Stimme drang aus der Küche: »Wie kannst du jetzt joggen gehen, Georg? Das ist doch total daneben! Dein Sohn ist tot.«
    Bei diesen Worten brach Tatjana wieder in Tränen aus. »Wenn ich laufe, komme ich aber am besten klar damit«, rechtfertigte sich Georg, schon im Flur. Tatjana

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