Die Angst der Woche
stehen, mag erhebend sein«, fährt Cerutti fort. »Konsequent weitergedacht, sind wir auch mit Nero, Gessler und Konsorten im intimen Luftaustausch. Bei Stalin und Hitler ist es nur eine Frage der Zeit, bis die globale Luftzirkulation auch ihren giftigen Hauch jedem braven Menschen in die Lungen treibt.«
Also: Teuflische und göttliche Stoffe gibt es in uns und um uns mehr als genug. Und peu à peu werden wir sie auch alle finden! Denn die Analysemethoden werden immer feiner. Die übliche MaÃeinheit ist hier ein Milligramm pro Kilogramm (ppm). Das war zugleich noch vor 30 oder 40 Jahren der Standard, als der Delaney-Zusatz in den USA zum Gesetz geworden war: Ein Milligramm Pflanzenschutzmittel pro Kilo Preiselbeeren konnte damals nachgewiesen werden, was darunter lag, war nicht vorhanden. Aber eben nicht mangels Existenz, sondern mangels Nachweismöglichkeiten. In den 80er-Jahren konnten aber schon Schadstoffkonzentrationen von 1:1 Milliarde nachgewiesen werden, und heute sind wir bei 1:1 Trillion angekommen â ein Zuckerwürfel, aufgelöst im Starnberger See, wäre heute ohne jeden Zweifel nachzuweisen.
Und das ist noch lange nicht das Ende. In geradezu atemberaubendem Tempo gelingt es der analytischen Chemie, mit immer neuen Messmethoden (Chromatografie, Massenspektrometrie, Kernresonanz-Spektroskopie) immer geringere Mengen von Stoffen aufzuspüren, am Institut des Göttinger Nobelpreisträgers Manfred Eigen soll man inzwischen sogar einzelne Moleküle finden können. Und vor allem deshalb, weil die Analysen immer feiner werden, und nicht , weil wirklich alles immer mehr vergiftet würde, kommen heute an allen Ecken und Enden neue Schadstoffe ans Tageslicht. Und liefern dann Anlass für Schlagzeilen wie die folgende (aus einer Meldung von dpa): »Schadstoffe in Kinderregenjacken â alle Produkte enthielten TBT.« Im Text heiÃt es dann weiter: »In vielen Regenjacken für Kinder finden sich, einem Bericht der Zeitschrift Ãko-Test zufolge, Schadstoffe. So sei in allen 16 untersuchten Jacken der Stoff Tributylzinn (TBT) gefunden worden. Schon kleinste Mengen dieses Stoffes stünden im Verdacht, das Immun- und Hormonsystem von Menschen zu beeinträchtigen.«
Diese Meldung enthält gleich zwei Panikverstärker: den Konjunktiv â der Stoff steht im Verdacht , dass er das Immun- und Hormonsystem beeinträchtigen könnte  â und dann den Fokus auf der Existenz: In allen Jacken gab es TBT! Auch wenn in acht Jacken »TBT nur in Spuren nachgewiesen« wurde.
Diese Spuren findet man aber überall, nicht nur in Kinderregenjacken. »Das Aufspüren kleinster Schadstoffmengen hat zur Folge, dass überall alles gefunden wird« ( Der Spiegel ). Weiter unten in der dpa-Meldung werden dann auch noch für eine Jacke eine Menge von 247 Mikrogramm pro Kilogramm und eine vom TÃV Rheinland erlaubte Höchstmenge erwähnt. Aber da war bei den meisten Lesern der Verhaltensschalter im Gehirn bereits auf Panikmodus umgestellt; Kaufhäuser mussten regalweise Textilien entsorgen, bei uns in Dortmund gab es zeitweise keine BVB-Trikots zu kaufen.
Eine andere dpa-Meldung zu Schadstoffen in der Muttermilch illustriert ebenfalls sehr schön die Wirkung dieses Existenzprinzips: »Eine britische Studie sorgt für Aufregung. In Muttermilch wurden über 300 Schadstoffe nachgewiesen.« Diese Meldung wurde vielfach nachgedruckt und ist ebenfalls in mindestens zweifacher Hinsicht falsch, denn in Muttermilch sind nicht nur 300, sondern 3000, vielleicht sogar 30 000 Schadstoffe enthalten. Es gibt vermutlich keine Stoffe und auch kein Gift auf der Erde, das nicht auch in Muttermilch enthalten wäre. Man hat sie nur noch nicht gefunden. Und dann lässt uns die Meldung glauben, diese Schadstoffe seien gefährlich. Natürlich sind sie das, wenn in groÃen Mengen konsumiert. Aber in der Verdünnung, die man üblicherweise in der Muttermilch beobachtet, schaden sie niemandem.
Oder man nehme eine weitere dpa-Meldung mit der Schlagzeile: »Viele Früchtetees mit Giftstoffen belastet.« Schon das erste Wort der Titelzeile ist falsch. Denn nicht viele Früchtetees enthalten Giftstoffe. Alle Früchtetees enthalten Giftstoffe. Man hat sie nur noch nicht gefunden.
In diesem Fall hatte die Stiftung Warentest in 28 von 50 getesteten Früchtetees das giftige Holzschutzmittel PCP entdeckt. Das war vor
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