Die Angst der Woche
»Umweltmediziner« tätig werden und offensichtlich auch ein gutes Auskommen damit haben, die solche Empfindlichkeiten zu kurieren trachten. »Seit 1996 können Patienten mit möglicherweise umweltbedingten Beschwerden den Umwelt-Mess- und Beratungsdienst der KVWL [Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe] in Anspruch nehmen«, lese ich in einer einschlägigen Broschüre. »Nach einer speziellen umweltbezogenen Anamnese entscheidet der Arzt, ob ein Ambientmonitoring in der häuslichen Umgebung des Patienten erforderlich ist. Unter den Patienten sind Frauen in den mittleren Lebensjahren und Kinder besonders häufig. Beschwerden betreffen vor allem die Atemwege und eine erhöhte Anfälligkeit für Infekte. Vielfältige Störungen des Befindens treten vorwiegend ab den mittleren Lebensjahren hinzu. In zwei von drei untersuchten Wohnungen finden sich Expositionen. Die häufigsten Belastungen sind Schimmelpilze, Formaldehyd und Biozide.«
In der Broschüre ist auch ein konkretes Fallbeispiel â Schadstoffbelastung in einem Fertighaus, Baujahr 1971 â nachzulesen: »Ein Ehepaar (Alter Mitte 70) bewohnt seit Erstellung des Objektes 1971 ein Fertighaus in Leichtbauweise. Das Gebäude besteht aus einem Holzständerwerk, Spanplattenwänden mit aufgesetzten GK-Platten und FuÃböden wie Decken aus Spanplatten. Bei einer umweltmedizinischen Untersuchung wurde ein toxischer Leberschaden bei der Ehefrau festgestellt sowie Leberwerte beim Ehemann, die auf eine toxische Belastung hindeuten. Des Weiteren wurde über Augenreizungen, Hautjucken, Schluckbeschwerden und verstopfte Nase geklagt. Beim Ortstermin wurde im Gebäude sofort beim Eintritt ein starker muffig-schimmliger Geruch festgestellt, wie er häufig in derartigen Fertighäusern vorliegt. Die Hausstaubanalyse ergab nur leicht auffällige Werte an PCP (5 mg/kg), DDT (5 mg/kg) sowie Lindan (1 mg/kg). Die Raumluftmessung auf Formaldehyd ergab mit 0,08 ppm einen Wert, der unter der Empfehlung des BGA (0,1 ppm), aber über dem Zielwert der WHO (0,05 ppm) liegt. Bei vergleichbaren Geruchsbelastungen in Fertighäusern wurden zwar regelmäÃig mikrobielle Schäden in der Dämmung der AuÃenwände festgestellt, jedoch ergaben die Ergebnisse von MVOC-Messungen zwar auffällig erhöhte Werte, die aber stets nicht so hoch lagen, wie es aufgrund des Geruchs zu erwarten war ⦠Eine VOC-Luftmessung in diesem Gebäude ergab, dass eine hohe Belastung mit Chloranisolen vorlag. Es konnten die Verbindungen 2,4,6-Trichloranisol (TCA) mit 5 ng/m³, 2,3,4,6-Tetrachloranisol (TeCA) mit 525 ng/m³ und Pentachloranisol (PCA) mit 71 ng/m³ nachgewiesen werden. Im Vergleich zu den Geruchsschwellwerten lagen die Konzentrationen von zwei Verbindungen deutlich im wahrnehmbaren Bereich.«
Und so weiter. Ich will die Belästigungen, denen das Ehepaar ausgesetzt war, auch gar nicht leugnen. Und höchstwahrscheinlich sind viele davon überhaupt erst durch den technischen Fortschritt der letzten Jahrzehnte entstanden. Aber manchmal drängt sich doch die Frage auf: Geht es uns vielleicht zu gut? â¦
Noch im 21. Jahrhundert gib es Länder, da werden neun von 100 Kindern keine fünf Jahre alt. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation gehen in den 23 ärmsten Ländern der Erde immer noch zehn Prozent aller Todesfälle auf verseuchtes Wasser sowie verschmutzte Luft durch Herdfeuer im Haus zurück. Verglichen damit ist die aktuelle Empfindsamkeit gegen alles und jedes, die wir derzeit in Deutschland und in anderen entwickelten Industrienationen zelebrieren, ein reiner Luxus, den wir uns nur deshalb leisten können, weil wir uns um sauberes Trinkwasser, ein Dach über dem Kopf, eine im Winter geheizte Wohnung und eine Möglichkeit zum ungefährlichen Kochen unseres Essens nicht mehr sorgen müssen; die meisten der in unseren Medien zelebrierten Mini- und Midi-Gefahren wären unseren Vorfahren wie VerheiÃungen erschienen und sind es für groÃe Teile der Weltbevölkerung heute immer noch.
Â
Â
Von diesen eingebildeten Umweltkranken zu unterscheiden sind Menschen mit einer Allergie. Allergien sind »echte« Krankheiten in dem Sinn, dass chemisch-physikalische Auslöser als Ursachen gefunden werden können. Aber trotzdem gehören auch sie in dieses Kapitel über die Prinzessin auf der Erbse.
Weitere Kostenlose Bücher