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Die Angst der Woche

Die Angst der Woche

Titel: Die Angst der Woche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Krämer
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Denn Allergien sind ganz klar ein Wohlstandsphänomen – sie sind in reichen Ländern häufiger als in armen, und auch in einem gegebenen Land nimmt die Häufigkeit von Allergien mit dem Einkommen der Patienten zu. Damit gehören Allergien zu den wenigen Krankheiten, vor denen Armut schützt. Nach einer neueren im Journal of Respiratory and Critical Care Medicine abgedruckten Studie etwa ist das Asthmarisiko für Kinder in den reichsten Ländern viermal so hoch wie für Kinder in den ärmsten. Und in Deutschland fällt Neurodermitis vor allem Menschen an, deren Einkommen über dem Landesdurchschnitt liegt.
    Es ist also kein Zufall, dass erst vor rund 100 Jahren, mit zunehmendem Wohlstand in Europa, Allergien in der medizinischen Fachliteratur als Krankheit aufgetreten sind. Das Wort ist griechisch und heißt »Fremdreaktion«; gemeint ist eine übertriebene Abwehr unseres Immunsystems auf bestimmte Umweltstoffe oder Nahrungsmittel wie Katzenhaare, Pollen, Hausstaub, Gänsefedern, Motten, Milben, Schimmelpilze, Tomaten, Knoblauch, Haselnüsse, Sardellen, Austern, Tintenfische usw. Die Liste der derzeit offiziell bekannten Allergene ist mehrere Hundert Einträge lang und wird jährlich umfangreicher.
    Normalerweise hat unser Organismus gegen alle diese Störenfriede seine Antikörper. Und das scheint auch über den größten Teil der Menschheitsgeschichte sehr gut funktioniert zu haben. Dann, im Jahr 1906, hat der Wiener Kinderarzt Clemens von Pirquet als Erster erkannt, dass Antikörper nicht nur schützen, sondern auch Überempfindlichkeit erzeugen können. Damit sie das aber können, muss unser Körper überhaupt erst mal empfindlich werden – Prinzessin auf der Erbse –, und das wird er, indem man ihn vor allen möglichen Attacken schützt, denen unsere Vorfahren vom ersten Tag ihres Lebens an fast ständig ausgesetzt gewesen sind. Nicht ohne Grund sind Allergien bei Kindern, die auf dem Land aufwachsen, weit weniger verbreitet als bei Stadtkindern. Und immer häufiger hört man heute auch schon Ärzte sagen, dass man es mit der Hygiene nicht so hundertprozentig genau nehmen solle, das könnte auch Nebenwirkungen haben. Ich kenne eine sehr nette Familie, die hat ihre Kinder konsequent vor Keimen und Bakterien geschützt; die Mutter lief immer mit einer Sagrotansprühdose ihren Kleinen hinterher. Die beiden waren die Einzigen in meinem ganzen Bekanntenkreis, die jemals Typhus hatten.
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    Aber zurück zu den Klagen über Kleinigkeiten. Dieses Jammern auf hohem Niveau erscheint auf den ersten Blick verrückt und irrational, ist es aber nur zum Teil. Eine Teilerklärung dafür haben vor mehr als 150 Jahren der Arzt Ernst Heinrich Weber und der Physiker Gustav Theodor Fechner bereitgestellt (das berühmte Weber-Fechner’sche Gesetz). Und zwar hatte Weber festgestellt, dass unsere Sinne Veränderungen in allen möglichen Reizen erst dann registrieren, wenn diese eine vom Niveau des Reizes abhängige Schwelle überschreiten: Je kleiner der vorhandene Reiz, desto geringer die Schwelle, je größer der vorhandene Reiz, desto höher die Schwelle. Der nötige Reiz, um eine Veränderung zu bemerken, ist dabei proportional zur Stärke des vorhandenen Reizes. Beim Tastsinn, so fand Weber heraus, beträgt der erforderliche Unterschied etwa 3 Prozent des Drucks, beim Helligkeitssehen etwa 1 bis 2 Prozent der Lichtstärke, und beim Geschmack muss die Konzentration um rund 15 Prozent steigen, damit wir den Unterschied bemerken.
    Und das Ganze gilt auch umgekehrt. Ein gegebener Reizunterschied ist umso eher wahrnehmbar, je niedriger der Ausgangsreiz. Für Angst und Risiko bedeutet das: Je sicherer das Leben, je sorgloser die Existenz, desto mehr stört uns die Erbse unter der 20. Matratze.
    Â»Jeder 100. Deutsche hat kein eigenes Klo.« Mit dieser Schlagzeile vom Februar 2011 lenkt die Bild- Zeitung unsere Aufmerksamkeit auf einen – ihrer Meinung nach – auf mehrfache Weise zum Himmel stinkenden Skandal. Als Student habe ich in einem Altbau gewohnt, alle Parteien meiner Etage teilten sich ein Klo, und keiner fand etwas dabei. Und noch heute haben über eine Milliarde Menschen weltweit überhaupt kein Klo, geschweige ein WC.
    Diese gestiegene Empfindlichkeit erklärt auch, warum im reichen Deutschland die »offizielle« Armut nicht

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