Die Angst der Woche
Leib und Leben der Verbraucher nie gefährdet. Der Skandal ebbt ab.
10. Juni: Die EU-Kommission sieht keinen Grund für ein Verkaufsverbot, das Nachbarland Belgien setzt die vorsorglich verfügte Kontrolle deutscher Agrarprodukte wieder aus.
11. Juni: Bei der FuÃball-WM in Japan/Südkorea besiegt Deutschland im letzten Gruppenspiel Kamerun mit 2:0 und wird damit Gruppensieger. Das öffentliche Interesse wendet sich vom Nitrofen dem FuÃball zu. Gestorben ist niemand, erkrankt auch keiner, viel Druckertinte ist geflossen, man hat sich prächtig aufgeregt, es war ein schönes Stück.
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Im Theater geht man nach einer solchen Vorstellung nach Hause und, wenn sie gut war, in sich: Was habe ich daraus gelernt?
Das geht hier nicht, denn bei diesem Volksschauspiel gibt es keine Zuschauer, nur Akteure, und die Reaktion dieser Akteure erinnert mich irgendwie an die Art und Weise, wie die Bewohner der schönen Stadt Grasse in Frankreich mit der Orgie fertig geworden sind, zu der sie sich in Patrick Süskinds Erfolgsroman Das Parfum durch die aufreizenden Wirkstoffe eines unerhörten Geruchsmittels hatten hinreiÃen lassen: »Sittsame Frauen rissen sich die Blusen auf, entblöÃten unter hysterischen Schreien ihre Brüste, warfen sich mit hochgezogenen Röcken auf die Erde. Männer stolperten mit irren Blicken durch das Feld von geilem aufgespreiztem Fleisch, zerrten mit zitternden Fingern ihre wie von unsichtbaren Frösten steif gefrorenen Glieder aus der Hose, fielen ächzend irgendwohin, kopulierten in unmöglichster Stellung und Paarung, Greis mit Jungfrau, Taglöhner mit Advokatengattin, Lehrbub mit Nonne, Jesuit mit Freimaurerin, alles durcheinander, wie es gerade kam.«
Wie kann man sich nach einer solchen Massenhysterie wieder in die Augen sehen?
Indem man sie verdrängt. Nach der Orgie waren die Leute von Grasse mit einem entsetzlichen Kater aufgewacht. Und sie schämten sich so sehr, dass sie beschlossen, nie wieder daran zu denken oder davon zu reden. »Wer seine Habseligkeiten und seine Angehörigen gefunden hatte, machte sich so rasch und so unauffällig wie möglich davon.«
Und so macht sich auch die veröffentliche deutsche Meinung nach einem solchen schamlosen Schauspiel immer so rasch und so unauffällig wie möglich davon. Man spricht nicht mehr darüber. Von Entschuldigungen habe ich bisher noch nichts gehört.
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Literatur:
Bruce N. Ames, Margie Profet und Lois S. Gold: »Dietary pesticides (99.99 Prozent all natural)«, Proceedings of the National Academy of Science 87 (1990), S. 7777 â 7781
G. W. Gray und J. D. Graham (1995): »Regulating pesticides«, in: J. D. Graham und J. B. Wiener (eds.): Risk vs. risk , Cambridge (Harvard University Press), S. 173 â 192
Greenpeace e. V.: »Umfrage zu Pestiziden in Lebensmitteln«, Hamburg 2007
Hans-Ulrich Grimm: Echt künstlich . Stuttgart 2007 (Dr. Watson Books)
»Nitrofen: Chronologie eines Skandals«, FAZ 12.6.2002
Sven-David Müller, Carolin Böcker und Jasmin Schwarz: Die 50 besten und 50 gefährlichsten Lebensmittel , Hannover 2008 (Schlütersche Verlagsgesellschaft)
Udo Pollmer und Monika Niehaus: Wer gesund lebt, ist selber schuld: Was uns Gesundheitsapostel verschweigen, München 2010 (blv-Verlag)
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9 Der groÃe Leukämieschwindel
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»Häufige Leukämie-Erkrankungen in der Nähe von Radio Vatikan.«
Frankfurter Allgemeine Zeitung
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Jedes Jahr sterben in Deutschland mehr als 7000 Menschen an Leukämie, weltweit sind es mehr als 250 000. Ein trauriges Schicksal, eine persönliche Katastrophe für alle, die davon überfallen werden. Leukämie ist ein bösartiger, erstmals im Jahr 1845 von Rudolf Virchow beschriebener Blutkrebs, benannt nach griechisch »leukos« = weià und »haima« = Blut; der Name steht für die unkontrollierte Vermehrung von weiÃen Blutkörperchen (Leukozyten) und ihrer funktionsuntüchtigen Vorstufen, die durch ihr Wuchern die gesunden Zellen derart an der Arbeit hindern, dass man daran stirbt. Die Krankheit beginnt mit der Entartung einer einzigen Zelle, deren Erbgut sich schlagartig verändert. Alle Abkömmlinge dieser Zelle entarten dann ebenfalls und verbreiten sich zunächst im Knochenmark, wo sie die Blutbildung stören, können
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