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Die Angst der Woche

Die Angst der Woche

Titel: Die Angst der Woche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Krämer
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Massenvergiftungen aller Art. Sei es eine stinkende Toilette, ein seltsamer Geruch, die herausposaunte Messung einer unbedeutenden Chemikalie, die »schlechte Luft« in klimatisierten Räumen: Schulklassen oder ganze Schulen, die Mitarbeiter von Büros oder Anwohner einer Fabrik fühlen sich plötzlich nicht wohl und glauben sich vergiftet. Aber auch nach gründlichsten Untersuchungen ist kein Stoff zu finden, der auch nur im Entferntesten die Symptome hätte auslösen können. Analysen von Urin, Blut oder Haaren bringen keinen Befund. In Kanada wurde einmal in vier Bürohäusern die Frischluftzufuhr erhöht, ohne dass die über schlechte Luft klagenden Angestellten davon wussten – die Beschwerden gingen nicht zurück.
    Nach Meinung vieler Ärzte sind die so reagierenden Menschen tatsächlich krank und nur sehr schwer zu heilen. Sie suchen die Ursachen ihrer psychischen Probleme in äußeren Quellen: in einem Virus, in sexueller Belästigung, chemischer Kriegsführung, in teuflischen Verschwörungen oder außerirdischer Beeinflussung. Sie meiden Psychotherapeuten und suchen Rat bei Allgemeinärzten oder gehen in die für ihr defektes Körperteil zuständigen Krankenhaus-Spezialabteilungen – die meisten Psycho-Fälle sind ohne Rast und Ruh hinter Medikamenten und Operationen her.
    Â»Ã„rzte sind in solchen Fällen oft ratlos«, schreibt der Stern . »Denn es ist schwer feststellbar, worauf jemand tatsächlich reagiert, falls überhaupt. Sind es Düfte? Ist es der Feinstaub? Oder ist jemand einfach nur hysterisch?« Ein schulmedizinisch behandelbares Standardleiden haben diese Menschen jedenfalls nicht. Aber genau darauf bestehen sie mit großem Nachdruck. »Die Patienten bestehen darauf, vergiftet zu sein – doch in den meisten Fällen sind sie es nicht«, schreibt der Spiegel . »Ihre Werte an DDT, Lindan, PCB, Quecksilber oder halogenierten Kohlenwasserstoffen liegen nicht höher als beim Rest der Bevölkerung.«
    Die Ärzte sind dabei aufgrund mangelnder psychologischer Schulung nicht nur hilflos, sie werden gleichzeitig von der unerfüllbaren Erwartung der Patienten in die Rolle des Scheiternden gedrängt. Denn die Wissenschaft kann niemals die Nichtexistenz einer Vergiftung beweisen. Eine einseitig auf die Biologie fixierte Medizin ist daher kaum in der Lage, hier Abhilfe zu schaffen. Die Patienten verbleiben unter starkem Leidensdruck, und die akademischen Ärzte sehen sich im Dilemma zwischen der offensichtlichen Not der Patienten und dem aktuellen Stand der Wissenschaft, der da lautet: Es ist nichts zu finden.
    Am ehesten könnten noch Psychologen zur Aufklärung beitragen. Aber leider nehmen viele Psychologen das, was die Patienten ihnen sagen, für bare Münze. Beide Seiten – die Ärzte wie die Psychologen – haben Mühe, chemische von psychosomatischen Störungen zu unterscheiden. Einerseits ist eine saubere Diagnose oft wirklich schwierig, andererseits übersehen beide Berufsgruppen geflissentlich die Erkenntnisse der jeweils anderen, trotz der bis zum Überdruss wiederholten Forderung, psychische und soziale Faktoren in der Medizin stärker zu berücksichtigen. So ordnen sie die Symptome mehr aus Verlegenheit denn aus Überzeugung komplizierten Krankheitsbildern mit amerikanischen Namen zu, von denen unklar ist, ob es sich nicht doch nur um Modediagnosen handelt, die nach einiger Zeit so wie die klassische Hysterie, die Neurasthenie und das Kriegszittern verschwinden werden.
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    Falsche Reaktionen auf Risiken gleich welcher Art kosten nicht nur Geld, Gesundheit und Lebensfreude, sie bremsen auch das Wirtschaftswachstum. Unter allen Volkswirtschaften der EU belegte die deutsche von 1995 bis 2009 mit insgesamt 16 Prozent Wachstum über 15 Jahre den vorletzten Platz – nur die italienische wuchs noch langsamer. Dagegen wuchs Irland in dieser Zeit um 105 Prozent, gefolgt von Polen (84 Prozent) und der Slowakei (82 Prozent). Auch unsere direkten Nachbarn – neben Polen auch Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Dänemark, Frankreich, Österreich und die Schweiz – wuchsen alle schneller als die Bundesrepublik. Unser Land, vormals der ökonomische Musterknabe, wird zum kranken Mann Europas.
    Darüber kann auch die vergleichsweise robuste Erholung nach der letzten Wirtschaftskrise nicht hinwegtäuschen.

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