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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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versunken,und wir verpassen deshalb den Flecken Otrar, wo der fürchterliche Tamerlan, nachdem er Bagdad dem Erdboden gleichgemacht und Tausende von Schädelpyramiden errichtet hatte, am 19. Januar 1405 gestorben ist. Im tiefen Winter hatte damals der »Amir-el-Kabir« zur Eroberung des chinesischen Großreiches aus geholt und seine Truppen im Schnee versammelt. Beim letzten gro ßen Bankett vor dem Aufbruch – er hatte vermutlich zu viel Alko hol genossen – überkam ihn das tödliche Delirium. Hätte er den Drachensohn von Peking ebenso unerbittlich unterworfen wie sei nen Todfeind Tochtamysch, den letzten Groß-Khan der Goldenen Horde, oder wie den osmanischen Kriegshelden Bayazid in der Schlacht von Ankara?
    Nachdenklich verharren wir in der Steppe von Otrar. »Es ist kaum zu glauben«, murmelt Isabegow, »aber bis zuletzt hat dieser türkisch-mongolische Tyrann in einem lockeren Vasallenverhält nis zum Kaiser von China gestanden. Er entrichtete dem Sohn des Himmels regelmäßig seinen symbolischen Tribut, auch wenn es sich beim letzten Unterwerfungsakt im Jahr 1394 nur um die be scheidene Lieferung von zweihundert Pferden handelte. Vom Dra chenthron in Peking mußte schon damals eine gewaltige Ausstrah lung ausgegangen sein.«
    Mein kasachischer Gefährte gibt mir einen kleinen Zettel, den ihm der Hodscha des Großen Mausoleums von Turkestan über reicht hat, mit der Weisung, mir den Text zu übersetzen. Es ist eine düstere Botschaft, die aus diesen in arabischer Schrift verfaßten Versen des Mystikers Ahmed Yassavi sprach: »Der frühere Wohl stand unseres Volkes liegt in Trümmern«, hieß es da. »Unsere Kö nige und Wesire sind keine Künder der Wahrheit mehr. Über die Menschheit bricht schreckliches Unheil herein. Die Welt stirbt da hin, und ihr Ende kann nicht fern sein. Euer Gottesdiener Ahmed, so sollt Ihr wissen, hat Euch gewarnt, bevor er von Euch ging.«
Das»Große Spiel« am Kaspischen Meer
    Aktau, im Juli 2009
    So strahlend und türkisblau habe ich mir das Kaspische Meer an sei nem östlichen Ufer nicht vorgestellt. Weiße Felsen aus Muschelkalk bilden rund um den Hafen einen strahlenden Kranz. Der Grund stein zur Stadt Aktau wurde erst 1958 gelegt, nachdem die damalige Sowjetverwaltung auf überreiche Ölvorkommen und auf Uran ge stoßen war. Stattliche Bauten reihen sich in makellosem Weiß anein ander, und es kommt nicht der Eindruck auf, man befände sich am Rande eines Petroleumreviers gigantischen Ausmaßes.
    Wir sind am Nachmittag von Astana abgeflogen und hatten auf der Landkarte festgestellt, daß sich Aktau mitsamt der sich in das Kaspische Meer vorschiebenden Halbinsel Mangyschlak auf halber Strecke zwischen Frankfurt und Almaty befindet. Mit solchen Di stanzen hat man es hier zu tun. Die Bevölkerung von Aktau muß in den ersten Jahren überwiegend slawisch gewesen sein, und es hat wohl zum Zeitpunkt der Auflösung der Sowjetunion einer seltsa men Verblendung, eines akuten Anfalls von nationalem Defätismus bedurft, daß Moskau diese westlichste, periphere Region Kasach stans einem neu entstandenen Staatsgebilde überließ, das nun in voller Souveränität über seinen Energiereichtum verfügen und ihn an ausländische Konzerne verhökern konnte.
    Von der Terrasse des Hotels Renaissance genieße ich einen pathe tischen Sonnenuntergang. Bei der Fahrt in die Stadt haben wir eine total verdorrte, von Sanddünen durchzogene Steppe durchquert, aber ich fühle mich wohl in der Wüste. Ein grauhaariger Mann mit scharfgeschnittener Nase beobachtet mich intensiv. Dann kommt er an meinen Tisch. Er habe lange in Deutschland gelebt und kenne mein Gesicht aus dem Fernsehen. Er stellt sich unter dem Namen Peruskian vor und gibt sich damit als Armenier zu erkennen.
    Wir sprechen eine Weile über die Zustände auf dem westlichen Gegenufer, wo es – nach Proklamation der Unabhängigkeit der dortigen südkaukasischen Republiken – den christlichen Armeniern gelungenwar, ihre aserbaidschanischen Nachbarn und Feinde, die sich zum schiitischen Islam bekennen, aus der absurden Exklave Nagorny Karabagh zu verdrängen und ein Fünftel der Republik von Baku militärisch zu okkupieren. Ohne russische Waffenhilfe wäre ein solcher Erfolg kaum möglich gewesen. Sehr viel verwunderlicher war die Tatsache, wie ich seinerzeit an Ort und Stelle in Stepanakert feststellen konnte, daß fast sämtliche Lebensmittel und Gebrauchsartikel des täglichen Lebens – inklusive Toilettenpapier – von den Mullahs in

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