Die Angst des wei�en Mannes
Umgebung von Almaty sei bereits übervölkert und allzu nahe in der südöstlichsten Ecke der Republik an der Grenze der Volksrepublik China gelegen. Eine an dere Version besagt, der Präsident fühle sich in Almaty entfremdet und teilweise isoliert. Er verfüge nur über eine begrenzte Kontrolle über die diversen Mafia-Organisationen und Wirtschafts-Gangs, die dort den Ton angeben. Nachteilig wirke sich für ihn auch aus, daß seine Sippe nicht der vorherrschenden kasachischen Stammes gruppe der Südregion angehört, die als »Ulu Djus«, als »Ältere« oder »Große Horde« bezeichnet wird, sondern der Föderation der »Mittleren Horde« oder »Orta Djus«, die in den zentralen sowie nördlichen Oblasten am stärksten vertreten ist und dort unter sla wischen Einwanderungsdruck geriet.
In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, daß im äußersten Westen Kasachstans, am Rande des Kaspischen Meers und speziell rund um das Terrain der unermeßlichen Petroleumschätze von Tengis,von alters her die »Kleine Horde« oder »Kischi Djus« kampiert. Das hat seine Bedeutung, denn die asiatische Urbevölkerung fühlt sich in diesem potentiellen Eldorado weit mehr zu Hause als die zugewanderten russischen Techniker und dürfte sich einer eventuellen Aufteilung Kasachstans, wie sie Lebed und Solschenizyn vorschwebte, mit Nachdruck widersetzen.
Der wirkliche Grund für das ursprünglich abenteuerlich anmu tende Projekt »Astana« ist in der Demographie zu suchen. Durch die Hauptstadtverlagerung wolle Nasarbajew den russischen Anne xionsabsichten einen Riegel vorschieben und die kasachische Vor herrschaft auch in den nördlichen Gegenden betonen, so heißt es. Von allen GUS-Präsidenten befindet sich dieser Mann in der schwierigsten Situation, und in seiner Umgebung betont man, daß Flexibilität die einzige Methode sei, um der Umarmung durch den russischen Bären zu entgehen.
Der bedrohlichen Staatsauflösung ist Nasarbajew schon im vergangenen Jahr mit dem Kommentar entgegengetreten: »Ein Orchester kann nur einen Dirigenten haben.« Er entmachtete Par lament und Regierung und griff auf das Instrument der Präsidial erlasse, in Zentralasien »Ukasokratie« genannt, zurück. Seine Alleinherrschaft ließ er durch ein Präsidialregime mit extremen Vollmachten zementieren. Per Referendum ließ er seine Amtszeit verlängern. Was nun die neue Kapitale in der fernen, unwirtlichen Steppe betrifft, so ist es diesem Machtmenschen gelungen, seinen Willen in Rekordzeit durchzusetzen, wie wir im Jahr 2009 an Ort und Stelle feststellen konnten.
Die Prophezeiung des Hodscha Yassavi
In diesem Herbst 1995 hatte ich mir eine ausgedehnte Überland - reise vorgenommen und dafür einen idealen Begleiter gefunden . Serik Isabegow war Germanistikprofessor an der Universität Almaty.Er war ein typischer Kasache, sah aus, als sei er gerade vom Pferd gestiegen, war stets zu Scherzen aufgelegt und sprach ein lu penreines Deutsch. Zumindest in dieser Hinsicht haben die Un terrichtsmethoden der DDR beachtlichen Erfolg gehabt und bei den Begünstigten durchaus positive Erinnerungen hinterlas sen. Für kasachische Verhältnisse lebte die Familie in einer sehr komfortablen Wohnung, die sie im Stil der ehemaligen SED-No menklatura möbliert hatte. Seine Frau, die ebenfalls die Sprache Goethes beherrschte, wurde von ihrem Mann liebevoll »Mutti« genannt. Ihre Gastfreundschaft kannte keine Grenzen.
Bei der Bestimmung unseres Fahrtziels haben wir uns nicht an den offiziellen Vorschlag gehalten. Wir verzichten auf die Huldigung an den gefeierten Nationaldichter Abai Kunanbajew, der auch im be nachbarten Kirgistan höchstes Ansehen genießt. Wir fahren in Rich tung auf das Städtchen Turkestan, auf dem östlichen Ufer des Syr Daria im südlichen Landesteil gelegen. Die Entfernung beträgt etwa 1500 Kilometer, und die Reise würde mindestens zwei Tage dauern.
In Turkestan erhebt sich die grandiose Grabstätte eines hochver ehrten Sufi und Eremiten aus dem zwölften Jahrhundert, des Hod scha Ahmed Yassavi, deren Bau von keinem Geringeren als dem Welteroberer und Weltzerstörer Tamerlan, auch Timur Lenk ge nannt, im späten vierzehnten Jahrhundert in Auftrag gegeben wor den war. Dieser »Amir-el-Kabir«, der in 35 Feldzügen den ganzen Orient verwüstet hatte, wird heute in der Republik Usbekistan als Nationalheld gefeiert.
Wir haben die äußeren Wohnkästen von Almaty noch keine halbe Stunde hinter uns gelassen, da nimmt uns schon eine weite Prärie auf.
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