Die Angst des wei�en Mannes
Pressekorrespondent und »Aufklärer« hat er aufgrund seiner profunden Erfahrung des Orients und seiner arabischen Sprachkenntnisse selbst bei seinen amerikanischen Gegenspielern Hochachtung genossen. Später war er unter Jelzin vorübergehend zum Ministerpräsidenten und dann zum obersten Chef des Aus lands-Nachrichtendienstes berufen worden.
Dieser Experte wußte, daß innerhalb der immer noch gewaltigen russischen Föderation etwa 25 Millionen Muslime lebten, deren na tionale Ansprüche über kurz oder lang – zumal in den Autonomen Republiken Tatarstan an der Wolga und Baschkortastan am Ural – durch die sich abzeichnende religiöse »Nahda« zusätzliche Impulse erhalten würden. Schon sammelten sich ja die frommen Pilgergrup pen an den Ruinen von Bolgar an der Wolga, wo der maghrebini sche Weltreisende Ibn Batuta im vierzehnten Jahrhundert ein blü hendes islamisches Staatswesen vorgefunden hatte.
Im Kaukasus war trotz der Gefügigkeit jener Muftis, die von Moskau bestallt und überwacht wurden, der geheime Wunsch zu spüren,zwischen Dagestan am Kaspischen und Abchasien am Schwarzen Meer eine Art nordkaukasisches Kalifat zu gründen. In Kazan wiederum wölbte sich die riesige blaue Kuppel der neuen Moschee Kul Sharif hoch über jenen goldenen Zwiebeltürmen des Christentums, die bislang den dortigen Kreml weithin aufleuchten ließen. Der amtierende Imam hatte mir gestanden, daß er seine religiösen Studien in Medina, in Saudi-Arabien, absolviert hatte, am Grab des Propheten, wo sich die unduldsamste Form des koranischen Fundamentalismus – auf den riesigen Ölreichtum des Königreichs gestützt – eine radikale Missionierung sowie die gezielte Erziehung zum religiösen Fanatismus auf ihre grünen Fahnen geschrieben hatte. Die wahhabitischen Prediger sind inzwischen von Bosnien bis nach Indonesien ausgeschwärmt.
Primakow sah hingegen keinen Grund, sich der verkrampften Angstpsychose anzuschließen, die in Amerika und Europa das Ver hältnis zur Islamischen Republik Iran belastete. Was Rußland zu befürchten hatte, war das Übergreifen des sunnitischen Radikalis mus auf die Erblande der früheren Sowjetunion in Zentralasien, eine verzerrte Form der Salafiya, die ständig an Boden gewann. Dort gehörte jedoch lediglich die südkaukasische Republik Aser baidschan mehrheitlich der schiitischen Glaubensrichtung an. Die späteren Safawiden-Schahs waren es, die im sechzehnten Jahrhun dert die schiitische Auslegung der koranischen Lehre, die »Schiat Ali«, zur Staatsreligion Persiens deklarierten.
Seitdem hat sich die erbitterte Feindschaft zu den Sunniten, die seit Selim I. den osmanischen Sultan von Istanbul als ihren Kalifen anerkannten, ständig vertieft. Für die rauhen Steppenvölker – seien sie nun Turkmenen oder Kasachen –, die sich bei aller Verhaftung im Aberglauben ihrer Derwisch-Orden rühmten, rechtgläubige Angehörige der Sunna zu sein, galten die Schiiten von Anfang an als abscheuliche Abtrünnige vom rechten Weg Allahs, als Ketzer und »Kuffar«. Falls Anhänger dieser auf den Imam Ali und die zwölf Imame gegründeten Glaubensrichtung in die Hände der Noma denhorden fielen, wurden sie entweder zu Tode gefoltert oder als Sklaven verkauft.
Ausdiesem Grund hat die Russische Föderation unserer Tage von einem schiitisch inspirierten Staatswesen wie der Islamischen Repu blik Iran keinen ernsthaften konfessionellen Zusammenprall zu be fürchten. Die frommen Schiiten hingegen verharren im Haß ihrer sunnitischen Gegner und insbesondere jener in Saudi-Arabien al les beherrschenden, extrem intoleranten Sekte der Wahhabiten, die seit ihrem Entstehen im achtzehnten Jahrhundert die Heiligtümer der »Partei Alis« in Nedschef und Kerbela häufig zerstören ließ. Da auch die Terroristenorganisation El Qaida in der Korandeutung des Wahhabismus wurzelt, ein Radikalismus, der auch auf die Taleban Afghanistans übergreifen sollte, kann es keine Gemeinsamkeit ge ben zwischen Osama bin Laden und seinen Gefolgsleuten mit den Mullahs von Teheran. Dieser Gegensatz steigerte sich sogar nach dem iranisch-irakischen Golfkrieg zu glühendem Haß.
Wenn also eines Tages eine militante sunnitische Form des Islam auf Usbekistan, Kirgistan, Turkmenistan übergreifen sollte, wofür ein von den Taleban beherrschtes Afghanistan die ideale Ausgangs basis böte, dann könnte Rußland zumindest auf ein stillschweigen des Einvernehmen, wenn nicht auf aktive Komplizenschaft mit je nem Khomeini-Staat zurückgreifen, der
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