Die Angst des wei�en Mannes
Umkehr. »Es ist vorhin schon zu einer Schlägerei in der Sauna gekommen, und als Ausländer könnten Sie besonders gefährdet sein«, flüstert sie mir zu.
Am folgenden Tag passieren wir die Stadt Tschimkent, schon im Einflußbereich der usbekischen Hauptstadt Taschkent gelegen. Im mer wiederkreuzen oder überholen wir Lastwagenkolonnen mit persischen und türkischen Kennzeichen. Die Stadt sei wegen des Wohlstandes ihrer Bazari bekannt, erklärt mein Begleiter. Wer hier etwas auf sich halte, lade zur Hochzeit seiner Kinder nicht weniger als tausend Gäste ein und bewirte sie fürstlich. Am Ausgang der geschäftigen, aber häßlichen Siedlung biegen wir in Richtung auf Kisyl Orda nach Nordwesten ab. Der Syr Daria fließt – für uns unsichtbar – in geringer Entfernung parallel zur Straße. Dennoch trocknet das Land immer mehr aus. Baumwollfelder werden selten. Trotz der späten Jahreszeit ist die Sonne noch heiß. Schafherden weiden zwischen weitgestreckten Friedhöfen. Ein besonders heruntergekommenes Industrienest, wo keine Maschine mehr arbeitet, trägt den anspruchsvollen Namen »Temerlan«. In der tellerflachen Ebene werden die Moschee-Neubauten immer zahlreicher.
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Endlich taucht das Städtchen Turkestan auf, das bis zum vierzehn ten Jahrhundert Yassi hieß. Von Ferne ist das gigantische Mau soleum zu erkennen, das die Handschrift des »Großen Fürsten« Tamerlan trägt. Die weitausladenden Portalfronten wie auch die Kuppeln, deren eine dem Gur-Emir bis in Detail entspricht, die Keramik-Dekorationen in Blau, Gelb und Grün verweisen nach Samarkand. Die Ausmaße sind fast die der Bibi-Hanim-Moschee.
Was mag den fürchterlichen Tamerlan bewogen haben, dem Mystiker, Dichter und Prediger Ahmed Yassavi, der im zwölften Jahrhundert gelebt hat, solche Ehre zu erweisen? Vielleicht, weil dessen friedliche, zutiefst menschenfreundliche Veranlagung zu seiner eigenen mörderischen Natur in so krassem Gegensatz stand.
Um die Figur des Hodscha Yassavi kreisen zahllose Legenden. Von den Korangelehrten in Bukhara und von den dortigen Sufi hatte er sich früh abgewandt. Er suchte die Gottesnähe am Rande der Wüste, in der Einsamkeit. Vom Volk wurde er abgöttisch geliebt und um geistlichen Rat befragt. Er soll sogar schon als elfjähriger Knabe mit einer persönlichen Vollmacht des Propheten Mohammedausgestattet worden sein, die ihm durch einen tausendjährigen Greis übermittelt wurde. Tatsache ist wohl, daß er sich mit 63 Jahren – in diesem Alter war Mohammed gestorben – in asketisches Eremitentum zurückzog und seine karge Wohnhöhle nie mehr verlassen hat.
Das Grabmal von Yassavi ist ringsum von Gerüsten umstellt. Türkische Firmen haben die Renovierung übernommen. Das Volk findet hier allmählich zum religiösen Brauchtum zurück. Braut paare verharren am Grab des Heiligen, um Kindersegen zu erbit ten. Dabei geht es locker und heiter zu. Noch sind hier ja aus der langen Zeit der Fremdherrschaft alle Zeichen einer kuriosen Mischkultur erhalten. Im Vorgarten der Moschee werden Exem plare des Koran für den Gegenwert von zwei US-Dollar verkauft, und gleich daneben wird Wodka und Obstschnaps angeboten.
Die Zeichen der Gottlosigkeit sind im Zentrum des tristen Städt chens Turkestan allgegenwärtig. Da beherrscht die Leninstatue weiterhin den Paradeplatz. Hammer und Sichel wurden vom Krie gerdenkmal nicht entfernt. Der Poet Ahmed Yassavi hat sich mit seinen erbaulichen Weisheitsversen, »Hikmet« genannt, ins Ge dächtnis eingeprägt. Heute wird ihm besonders zugute gehalten, daß er nicht nur auf Persisch und Arabisch dichtete, sondern auch in der türkischen Tschagatai-Sprache seiner Epoche, einem Noma den-Dialekt des Ogus-Kiptschak-Stammes.
Ein dreimaliges Gebet am Grab des Hodscha Yassavi sei ebenso verdienstvoll wie eine Pilgerfahrt nach Mekka, behauptet das Volk weiterhin in frommer Einfalt. Schon sollen sich wieder die Derwi sche der diversen Bruderschaften, vor allem der Naqschbandiya und der Yassaviya, an dieser geweihten Stelle sammeln. Zum »Dhikr« hocken sie, wenn die lästigen Besucher und Touristen gegangen sind, am Sarkophag aus hellem Marmor und wiederholen in endlo ser Rezitation die Beteuerung von der alles durchdringenden Prä senz Allahs: »Er lebt, er lebt, er lebt … hua ia’ischu!«
Meinem Freund Isabegow kam diese geistliche Wiedergeburt, die bei den Sufi-Jüngern nicht frei ist von Aberglauben und Zauberwahn, etwas unheimlich vor. Auf der Rückfahrt ist er in Gedanken
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