Die Angst des wei�en Mannes
zum deutschen Gouverneur von Astrakhan ernannt worden. Das war zu dem Zeitpunkt, als man in Berlin noch davon träumte, mit der Wehrmacht in einer gewaltigen Zangenbewegung bis zu den Erd ölfeldern von Baku in Aserbaidschan vorzustoßen.
Das Gespenst der Goldenen Horde
In diesem endlosen Raum ohne feste Konturen hat sich ein Kapitel Weltgeschichte abgespielt, das in den Geschichtsannalen des Westens kaum erwähnt wird. Wer weiß schon, daß Batu, der Enkel Dschingis Khans, nachdem er die russischen Fürstentümer Osteuropas unterworfen hatte, seine Hauptstadt Saraij, von wo aus er die Knute über sein immenses Imperium führte, präzis an jenem Punkt des Wolga-Ufers errichtet hatte, wo siebenhundert Jahre später die Reste der 6. Armee des deutschen General Paulus sich der Roten Armee ergeben mussten? Ebensowenig dürfte bekannt sein, daß die tatarisch-mongolische Vorherrschaft der »Goldenen Horde«, die bis in die Sümpfe des heutigen Belarus reichte, zwar durch einen Sieg des russischen Großfürsten Dmitri Donskoi geschwächt, aber erst endgültig zerschlagen wurde, als aus dem heutigen Usbekistan der schreckliche Eroberer Tamerlan den letzten Groß-Khanvon Saraij Tochtamysch in einer endlosen Hetzjagd bezwungen und dessen Wolga-Festung zerstört hatte.
Erst um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts wurde Rußland vom Alptraum des Tatarenjochs erlöst, als Iwan IV., genannt der Schreckliche, die islamische Hochburg Kazan an der Mittleren Wolga stürmte und zwei Jahre später auch dem tatarischen Khanat von Astrakhan den Todesstoß versetzte. Mit der zusätzlichen Er oberung des Khanats Sibir eröffnete Iwan IV. dem russischen Machtstreben das Tor in die Tiefen des sibirischen Subkontinents. Am Ende einer beispiellosen Expansion erreichten die Kosaken des Zaren die Westküste des Pazifischen Ozeans, wo sie – auf einem Territorium, das sie der geschwächten Qing-Dynastie Chinas ent rissen hatten – die Festung Wladiwostok, zu deutsch »Beherrscher des Ostens«, gründeten.
Um sich der Aufsässigkeit und der Anmaßung der Bojaren, der mächtigen Aristokratie des Zarenreiches, zu erwehren, hatte sich Iwan der Schreckliche bemüht, einen beachtlichen Teil des tatari schen Adels zum christlich-orthodoxen Glauben zu bekehren, sich ihrer Loyalität zu versichern und diese Konvertiten zur verläßlich sten Stütze des Thrones zu machen. Sehr bald fand eine ganze Se rie von slawisch-mongolischen Familienverflechtungen statt, die bis in die höchsten Kreise des Kreml reichten.
So soll der tragische Usurpator Boris Godunow reiner Tatar ge wesen sein, und die Mutter Peters des Großen, eine Naryschkina, entstammte ebenfalls einer angesehenen Sippe der mongolischen Oberschicht. Man braucht nur die Namen Rachmaninow oder Jus supow zu zitieren, um sich der ethnischen und kulturellen Durch dringung bewußt zu werden, die den französischen Marquis de Custine noch im neunzehnten Jahrhundert zu der Feststellung ver leitete: »Grattez le Russe et vous trouvez le Tartare – Kratzt den Russen an, und ihr findet den Tataren.«
Die mystische Vorstellung des zaristischen Rußland, als Drittes Rom die Nachfolge des byzantinischen Reiches anzutreten, wie auch der kaum weniger sakrale Anspruch der Sowjetunion, für das weltweite Proletariat ein Paradies der Werktätigen zu schaffen, sind wieein Wahn zerstoben. Im Westen des Reiches und im Kaukasus ist Rußland heute auf die demütigenden Territorialverluste des Friedens von Brest-Litowsk zurückgeworfen, der den Bolschewiki noch zu Beginn des Jahres 1918 von dem ebenfalls moribunden Kaiserreich Wilhelms II. aufgezwungen wurde.
In Fernost hat die chinesische Volksrepublik den gigantischen rus sischen Nachbarn, der um 1900 im Begriff stand, dem Reich der Mitte weitere riesige Landfetzen zu entreißen, als zweite Weltmacht bereits überflügelt. Der besorgte Blick Moskaus richtet sich aber vor allem auf das islamische Aufbegehren, eine türkisch-mongolische Wiedergeburt, die unter Berufung auf den Heiligen Koran düstere Erinnerungen an das »Tatarenjoch« von einst in Erinnerung ruft.
In seiner Immobilität ist das Kaspische Meer zu meinen Füßen in schwarzem Marmor erstarrt. Am Rande dieses zunehmend stra tegisch wichtigen Binnenmeeres fällt mir ein Gespräch ein, das ich im Winter 2005 mit Jewgeni Primakow in dessen prachtvoll altmo dischem Palast der Industrie- und Handelskammer von Moskau führte. Primakow war kein beliebiger hoher Funktionär des Sowjet staates. Als
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